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Galerie der Stadt Tuttlingen
Künstler und die Sicht auf die Welt: Christo und JR


Das Bild zeigt die Fotografie "Christo und Jeanne-Claude, L´Arc de Triomphe Wrapped"

Christo und Jeanne-Claude, L´Arc de Triomphe Wrapped, Paris 1961-2021, Originalfotografie von Wolfgang Volz. © Christo and Jeanne-Claude Foundation / VG Bild-Kunst, Bonn.

„Sowohl Christo und Jeanne Claude als auch JR durchbrechen die Grenzen des Kunstbetriebs“, so die Kuratorin Anna-Maria Ehrmann-Schindlbeck, „in dem sie eine breite Öffentlichkeit, quer durch alle sozialen Schichten, für ihre Aktionen interessieren und einbeziehen.“ Vom 24. Februar bis zum 28. April 2024 kann man dieser Verbindung nun in Tuttlingen nachspüren. Sie zeigt sowohl die spektakulären Verhüllungskationen von Christo und Jeanne-Claude als auch die großflächigen Porträtaktionen an ungewöhnlichen Orten und Architekturen von JR.

Christo (1935-2020) und Jeanne-Claude (1935-2009) umwickelten und umhüllten zunächst Alltagsgegenstände von der Rose bis zum VW-Käfer. Mit den sogenannten Store Fronts übertrugen sie das Geheimnisvolle des Verpackten in eine architektonische Dimension. Diese verändernden Eingriffe waren die Vorläufer für die Eingriffe in ganze Bauwerke und sogar Landschaften in großem Format. Die Magie ihrer Projekte, wie etwa die Verhüllung des Reichstags in Berlin (1995), blei-ben allen, die sie erlebt haben, unvergesslich.

Obwohl Christo und Jeanne-Claude mit ihren Werken Generationen von Künstlern und Künstlerinnen inspiriert haben, gibt es bis heute kaum jemanden, der auf vergleichbare Weise weltumspannend und öffentlichkeitswirksam arbeitet. Eine Ausnahme bildet der aus Frankreich stammende Künstler JR (* 1983), der ein bekennender Fan von Christo und Jeanne-Claude ist und mehrere Projekte der beiden begleitet hat. Berühmt wurde JR mit Porträtfotografien, die er – oft ohne offizielle Genehmigung – in monumentalen Formaten auf Häuserfronten, Eisenbahnzügen, Containerschiffen oder Grenzmauern plakatierte - an Orten von Sierra Leone bis Japan und Brasilien. Wie Christo und Jeanne-Claude konfrontiert er mit seiner Kunst im öffentlichen Raum Menschen, die normalerweise keine Galerie und kein Museum besuchen würden. Die Geschichten, die er mit seinen Projekten erzählt, sollen unseren Blick auf die Welt verändern. Sein Anliegen ist es, Grenzen zu überwinden und Brücken zwischen unter-schiedlichen Menschen, Ländern und Kulturen zu bauen.

Im Fokus stehen bei JR oft Menschen, deren Würde und Rechte übergangen werden. Ihnen verleiht JR mit seiner Kunst auf ebenso scharfsinnige wie einfühlsame Weise Sichtbarkeit. Dabei bleibt die Person hinter dem kryptischen Namen bewusst anonym. JR firmiert nur unter seinen Initialen und tritt stets mit Sonnenbrille und Hut auf. Im Vordergrund steht nicht seine Person, sondern sein Werk, dessen Auslegung er den Porträtierten und den Vorbeigehenden überlässt. Obwohl JR nach eigener Aussage mit seiner Kunst keine Antworten vorgeben, sondern vielmehr Fragen aufwerfen und die Menschen zum Dialog anregen möchte, sind seine Projekte doch häufig von sozialen und gesellschaftspolitischen Themen geprägt. „Hierin liegt ein entscheidender Unterschied zur Kunst von Christo und Jeanne-Claude“, so Kuratorin Ehrmann-Schindlbeck. Das Künstlerpaar Christo und Jeanne-Claude habe wiederholt betont, dass ihre Kunst nicht im Dienst irgendeiner politischer Zielsetzung stehe, sondern es ihnen lediglich um die Kunst als solche ginge.

Beiden Positionen, sowohl der von Christo und Jeanne-Claude als auch der von JR, ist wiederum gemeinsam, dass sie alle eine Parabel über gesellschaftliche und politische Zustände sind. Für JR gilt folgende berühmte Aussage von Christo ebenso: „Das Projekt entwickelt seine eigene Realität, die weit über meine Vorstellungskraft hinausgeht“. Die Wirkung beider Werke liegt darin, dass sie das Verständnis der Menschen für unsere Gesellschaft und ihr eigenes Leben in dieser Gesellschaft schärfen. Dazu ist es nicht wesentlich, auch das eine Gemeinsamkeit von beiden, dass ihre Projekte nicht von Dauer sind.

Um dennoch etwas vom Reiz ihrer Einmaligkeit über den Tag hinaus zu transportieren, gibt es eigene Kunstwerke, in denen sie verewigt sind. Das sind in der Ausstellung zum einen die Fotografien der Projekte von Christo und Jeanne-Claude, die Wolfgang Volz, der langjährige Weggefährte und unersetzbare dritte Partner im Bund, seit 1972 gemacht hat. Der Kunsthistoriker Werner Spies hat Volz, der 1948 in Tuttlingen geboren ist, treffend als „das Auge von Christo und Jeanne-Claude“ bezeichnet. Die Galerie freut sich darauf, Wolfgang Volz anlässlich der Eröffnung am 23. Februar 2024 in seiner Geburtsstadt begrüßen zu können. In der Ausstellung werden unter anderem seine Fotoserien vom verhüllten Reichstag (1995), von „The Gates“ in New York“ (2005), den bereits nach dem Tod von Jeanne-Claude realisierten „Floating Piers“ (2016) sowie von dem posthumen Projekt „L´Arc de Triomphe Wrapped“ (2021) zu sehen sein. Zudem legen Editionswerke wie „Red Storefront“ (1977), „Wrapped Automobile“ (1984), „Wrapped Trees“ (1987) oder „Wrapped Women“ (1996) beredtes Zeugnis von einer im Kleinformat begonnenen atemberaubenden Entwicklung ab.

Von JR werden in der Ausstellung Originallithographien gezeigt, in denen unwiederholbare Momente von bedeutenden Großprojekten wie „Inside Out“, „Women are Heroes“, „Giants“, „Ballerina“ und „Migrants“ wiedergegeben sind. „Giants“ ist beispielsweise eine Serie monumentaler fotografischer Installationen auf eigens errichteten Baugerüsten, entstand erstmals anlässlich der Olympischen Spiele 2016 in Rio de Janeiro. Anstatt mit berühmten Athleten und Athletinnen zu arbeiten, zog JR es vor, die Gesichter unbekannter Sportler zu fotografieren – jener, die jahrelang trainieren, um ihren Traum von der Teilnahme an den Olympischen Spielen zu verwirklichen, denen jedoch eine Mitwirkung oder ein Sieg verwehrt bleibt, deren Identität hinter dem Getöse der Spiele verschwindet.

Förderer des Tuttlinger Ausstellungsprojektes sind die Firmen Aesculap (Hauptsponsor), Werma Signaltechnik sowie Ritter Sport.

Die Ausstellung „Christo und Jeanne Claude | JR – wie Kunst unsere Sicht auf die Welt verändert“ ist vom 24. Februar bis zum 28. April 2024 jeweils dienstags bis sonntags von 11 bis 18 Uhr geöffnet. www.galerie-tuttlingen.de