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Tuttlingen und der
Hohentwiel

Heimlicher Hausberg, Sehnsuchtsort, schmerzliche Erinnerung - viele Tuttlinger verbindet eine ganz besondere Beziehung zum Hohentwiel. Dahinter verbirgt sich ein historisches Kuriusom, das 1968 endete. Denn bis zu jenem Jahr gehörte der bei Singen gelegene Berg mit seiner mächtigen Burgruine offiziell als Exklave zu Tuttlingen.

Festungsruine Hohentwiel

Gehörte einst zu Tuttlingen: Festungsruine Hohentwiel

Grund dafür waren die sich seit dem Mittelalter immer wieder verschiebenden Landesgrenzen im deutschen Südwesten. Während nämlich die Stadt Singen über die Jahrhunderte hinweg verschiedenen Adelshäusern zugehörig war und später dann zu Österreich gehörte,  war der Hohentwiel seit 1538 württembergisch: Herzog Ulrich von Württemberg hatte Berg und Burg erworben und zur Landesfestung ausgebaut. So blieb es auch, als Deutschland im frühen 19. Jahrhundert neu geordnet wurde: Zwar wurde Singen damals badisch, der Hohentwiel aber blieb württembergisch. Und da in diesen Jahren auch die Verwaltungen systematisiert wurden, ordnete man 1810 die mittlerweile geschleifte Burgruine des Hohentwiel sowie den angrenzenden Bruderhof automatisch dem nächstgelegenen württembergischen Oberamt zu - und das war nun mal Tuttlingen. Am 18. Juni 1849 wurden die Staatsdomäne Hohentwiel und der Bruderhof zur Teilgemeinde der Stadt Tuttlingen, ab 1935 dann zu einem Stadtteil Tuttlingens, das keinerlei rechtliche Selbständigkeit mehr hatte.

Die Oberbürgermeister Balz und Diez mit Pokal

Ende einer Ära: Die Oberbürgermeister Walter Balz (Tuttlingen) und Theopont Diez (Singen) stoßen auf die Umgemeindung an.

Alltagstauglich war die Regelung nicht wirklich: Zwar lebten rund um Burgruine und Bruderhof nur wenige Dutzend Menschen, diese mussten aber für alle formellen Dinge den Weg nach Tuttlingen antreten. Wenn Polizei benötigt wurde, mussten ebenfalls die Beamten aus Tuttlingen anfahren. Und selbst zum Reinigen der Kamine reiste eigens ein württembergischer Kaminfeger an. Gleichzeitig legte Tuttlingen großen Wert darauf, die Ansprüche auf den Hohentwiel dauerhaft zu unterstreichen. Einmal jährlich tagte deswegen auch der Gemeinderat im Wirtshaus des Bruderhofes.

Staatliche Bestrebungen, das zu ändern, kamen erstmals in den 1920er-Jahren auf. Als Tauschobjekt wurden Tuttlingen die Gemeinden Bärenthal und Beuron angeboten, was Tuttlingen aber ablehnte. Mit Möhringen wäre man zufrieden gewesen, aber dieser Tausch kam damals noch nicht zu Stande, der Status quo bleib erhalten. Entsprechend formulierte auch 1928 der Tuttlingen Gemeinderat seine Ansprüche: "Die historischen Beziehungen, hauptsächlich zwischen dem Hohentwiel und Tuttlingen mit seiner Burgruine Honberg, sind schon alt. Der Honberg und derHohentwiel gehören schon in der Zeit des Dreißigjährigen Kriegs zusammen.”

Männer mit Wahlurne

Abstimmung: Die Bewohner des Hohentwiels wurden berfragt - und sprachen sich mehrheitlich für Tuttlingen aus.

In den 1950er-Jahren griff die württembergische Landesregierung das Thema wieder auf - legte es aber nach einer Abstimmung unter den Hohentwiel- und Bruderhof-Bewohnern wieder zu den Akten: Diese hatten sich nämlich mehrheitlich für den Verbleib bei Tuttlingen ausgesprochen. Erst ein Gesetz von 1968, das landesweit Exklaven beseitigte und so die Landkarten bereinigte, schaffte klare Verhältnisse: Seit dem 1. Januar 1969 gehört der Hohentwiel zu Singen.

Einen besonderen Bezug der Tuttlinger zum Hohentwiel ist dennoch geblieben: Bei vielen öffentlichen  Anlässen schenkt die Stadt bis heute Wein aus, der am Fuße des Hohentwiel angebaut wurde. Und mit dem Gemeinderat der Stadt Singen hat man eine besondere Beziehung, trifft sich regelmäßig zum Austausch - auch wenn man in Tuttlingen bis heute auf die großzügigen Weinlieferungen wartet, die einstens angeblich als Entschädigung versprochen wurden...