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Stolpersteine

Gunter Demnigs Stolpersteine gelten als größtes dezentrales Denkmal der Welt. Über 70 000 Steine in Deutschland und 18 weiteren europäischen Ländern erinnern seit 1992 an Menschen, die während der NS-Diktatur verschleppt und ermordet wurden.

Am 28. Oktober 2014 hat der Gemeinderat beschlossen, auch in Tuttlingen Stolpersteine zu verlegen. Die Stolpersteine werden niveaugleich auf dem Gehweg vor dem Haus platziert, in dem das Opfer zuletzt wohnte, arbeitete oder inhaftiert war.

Die ersten Stolpersteine in Tuttlingen wurden am 24. Mai 2016 verlegt. Sie sind Teil der Tuttlinger Erinnerungskultur an die Opfer des NS-Regimes. Weitere Denkmale sind auch auf dem Alten Friedhof, auf dem Julius-Fröhlich-Platz und im Gedenkpfad Lager Mühlau anzutreffen.

Die Informationen auf den Stolpersteinen beschränken sich naturgemäß auf wenige Daten. Um die Erinnerung an die Opfer wach zu halten, wird parallel diese Online-Dokumentation angelegt, in der die Lebenswege der einzelnen Menschen genauer beschrieben werden.

Die Recherche ist das Ergebnis eines Geschichtsprojektes eines ehrenamtlichen Arbeitskreises unter der Leitung von Museumsleiterin Gunda Woll.
Stolperstein Ludwig Maier
Stolperstein Ludwig Maier

Ludwig Maier

Thekla und Ludwig Maier teilten in der NS-Zeit das Schicksal von Millionen verfolgter Juden. Mit viel Glück konnten beide in die USA emigrieren und starben dort. Jetzt aber zunächst zu Ludwig.

Ludwig Maier wurde am 26. April 1886 in Endingen (Kaiserstuhl) als Sohn des jüdischen Handelsmannes Hermann Maier und dessen Ehefrau Jette geb. Grumbacher geboren. Er besuchte in seinem Heimatort die Mittelschule. Anschließend absolvierte er in einem Kaufhaus in Brebach/Saar eine kaufmännische Lehre. Nach der Ausbildung arbeitete er in verschiedenen Kaufhäusern im Saarland und in Westfalen. 1910 begann er als Vertreter der Fabrik Strauss und Wolf in Köln zu arbeiten, um anschließend zu Patria Schuhwaren Gesellschaft in Berlin zu wechseln.

1914 kam er nach Tuttlingen und gründete 1916 mit Georg Schweizer und Hermann Martin eine Lederwarenfabrik, die ihren Sitz in der Bergstraße 27-29 hatte. Zunächst als offene Handelsgesellschaft ins Leben gerufen, gründeten die drei am 10. Juli 1923 eine Aktiengesellschaft, die 14.000 Aktien zu 1.000 Mark ausgab. Mit „Herstellung von Erzeugnissen der Lederindustrie, Handel mit Leder und Lederwaren“ wurden die Aufgaben der neu gegründeten Aktiengesellschaft beschrieben. Der Erfolg war ihnen mitten in der Inflation aber nicht hold: am 16. Januar 1926 wurde das Konkursverfahren eröffnet. Die Wege der drei trennten sich daraufhin. Ludwig Maier meldete bereits am 1. Oktober 1926 einen eigenen Handel mit Lederwaren an, den er in die Olgastraße 56 führte und mit dem er Kunden in Baden, Württemberg und Bayern belieferte. 1930 übernahm er das Geschäft von Siegfried Maier in die Möhringer Straße 52, das als Lederwarenfabrikation und Lederabfallhandlung bezeichnet wird. Seine Lieferanten waren jüdische Fabriken in Frankfurt, Hamburg und Berlin aber auch mit der Ledergroßhandlung Kälbermann in der Hermannstraße stand er in Geschäftsbeziehung. Bereits mit Hitlers Ernennung zum Reichskanzler aber spätestens mit Einführung der Rassengesetze ließ Ludwigs Geschäft deutlich nach. Die Betriebe der Lieferanten wurden aufgelöst und den früheren Abnehmern war es bei Strafe verboten, bei ihm etwas zu kaufen. Ende September 1938 löste er seinen Betrieb auf, emigrierte am 31. Oktober 1939 mit Geld, das er von seinem Bruder, Anton Maier, geliehen hatte, von Lützelsachsen in die USA und wollte seine Ehefrau Thekla später nachkommen lassen. Mit einem von seinem Bruder georderten Ticket bei der Holland-Amerika-Linie konnte er mit dem Dampfer „Pennland“ nach USA reisen. Die Kosten für Anreise und Überfahrt beliefen sich auf über 250 Dollar. Seine Ehefrau Thekla ging in ihre Heimat Lützelsachsen, um dort ihren alten Vater und dessen Bruder zu pflegen.

Er und ab 1942 auch seine Ehefrau Thekla lebten in Norwalk, Fairfield in Connecticut. Ludwig konnte in den USA zunächst keine Arbeit finden, so schlug er sich mit einem Hausierhandel durch. Er war zu alt, um noch eine gute Anstellung zu finden und sich neu einzuarbeiten. Von 1941 bis 1955 arbeitete er dann als Hilfsarbeiter in einer Lederwarenfabrik, was er dann wegen einer schweren Herzerkrankung aufgeben musste. Ludwig starb am 5. Juni 1961. Da er und seine Frau keine Kinder hatten, vererbten sie ihr verbliebenes Vermögen an Verwandte und Freunde. Bedacht wurde dabei auch eine Frau in Sasbach, die fünf nahe Angehörige von Ludwig bei Nacht in einem Versteck mit Lebensmittel versorgt hatte, bevor diese in ein KZ im Osten deportiert und getötet wurden.

Wir denken an Ludwig Maier.

Thekla Maier geb. Benjamin

Die Frau von Ludwig Maier, Thekla genannt Toni, wurde am 12. Februar 1895 in Lützelsachsen, das heute zum badischen Städtchen Weinheim gehört, als Tochter des jüdischen Handelsmannes Max Benjamin und dessen Ehefrau Babette Benjamin geb. Löwenstein geboren. Die Familie war sehr wohlhabend. Ihre Mutter starb bereits 1898.

Am 27. Mai 1929 heiratete sie in ihrem Heimatort Lützelsachsen den Lederhändler Ludwig Maier und zog zu ihm nach Tuttlingen. Hier lebte sie bis zum 3. Oktober 1939 zunächst im Gebäude Donaustraße 28, dann in der Bahnhofstraße 43 bei Oskar Rominger. Dann meldete sie sich in Tuttlingen ab und zog zu ihrem Vater nach Lützelsachsen. Während ihr Mann Ende Oktober 1939 nach USA auswandern konnte, blieb sie bei ihrem 81 Jahre alten Vater, um für ihn zu sorgen. Am 22. Oktober 1940 wurde sie ebenso wie ihr Vater in das Lager Gurs, das weit im Süden von Frankreich nördlich der Pyrenäen liegt, deportiert. In dieses Lager wurden viele Juden besonders aus Baden verschleppt. Für zahlreiche Deportierte war es nur eine Zwischenstation, bevor sie ab August 1942 im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau ermordet wurden. Lange hielt der Vater von Thekla Maier, Max Benjamin, die Strapazen des Lagers nicht durch und starb bereits am 3. Dezember 1940 im KZ Gurs. Für ihn wurde bereits in Weinheim in der Wintergasse 59/61 ein Stolperstein verlegt.

Durch die Hilfe des amerikanischen Roten Kreuz konnte Ludwig seine Frau 1942 retten und über Marseille nach Lissabon und von dort nach Amerika bringen lassen. Im Januar 1942 zahlte Ludwig 400 Dollar in New York bei der Hias (Hebrew Immigrant Aid Society) eine der großen jüdischen Hilfsorganisationen, die international agierte, für eine Fahrt mit dem Dampfschiff „Serpa Pintu“ von Lissabon nach USA. In Lissabon war der Sitz der europäischen Niederlassung der HIAS, die von dort aus Schiffspassagen mit den Dampfschiffen Serpa Pinto oder ihrem Schwesterschiff Mouzinho in die USA organisierten. Zunächst musste die Fahrt von Marseille nach Lissabon organisiert werden, um dann mit der Atlantiküberquerung in Lissabon zu starten. Nur wenigen Deportierten gelang es, auf diesem Wege dem KZ und dem sicheren Tod zu entkommen. Eine von ihnen war Thekla Maier.

Sie erreichte die USA und zog zu ihrem Mann nach Norwalk, Fairfield in Connecticut. Dort fand sie nichts von ihrem früheren Hausstand vor. Der Hausstand der beiden wurde Anfang 1939 nach erfolgter Genehmigung des Oberfinanzpräsidenten in Stuttgart in einen Container, einen so genannten Lift, verpackt und zur Überführung in die USA nach Bremen gebracht. Da zu diesem Zeitpunkt jüdischer Besitz nur exportiert werden durfte, wenn die Überführung vom Ausland bezahlt wurde, blieb der Lift zunächst in Bremen liegen, da Ludwig Maier noch mit Verwandten in der USA Kontakt aufnehmen wollte, damit diese den Container auslösen. Nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs war die Ausfuhr nicht mehr möglich, die ganze Habe wurde beschlagnahmt, nach Hamburg gebracht und später versteigert. Die Familie sah von ihrer wertvollen Einrichtung nichts mehr.

Thekla stammte aus wohlhabendem Hause und verlor durch ihre Flucht ihr gesamtes Vermögen und ihren Besitz. Wie schon bei Helene Landauer half Sybilla Kramer in der Nachkriegszeit von Deutschland aus, eine ausreichende Entschädigung für den Verlust der Familie Maier zu beantragen und nach einer Berufungsverhandlung auch durchzusetzen.
Thekla Maier starb am 5. November 1959 in Norwalk und wurde auf dem Friedhof Beth Israel beigesetzt.

Wir denken an Thekla genannt Toni Maier.

Stolperstein Thekla Maier
Stolperstein Thekla Maier
Stolperstein Hedwig Glocker
Stolperstein Hedwig Glocker
Wir wissen wenig über Hedwig Franziska Glocker, die in Tuttlingen geboren und in Grafeneck getötet wurde.

Bekannt ist, dass Hedwig Glocker am 10. September 1894 in Tuttlingen als Tochter des Schreiners Johann Glocker und dessen Ehefrau Franziska Glocker geb. Rack zur Welt kam. Die Familie lebte zu diesem Zeitpunkt in der Schützenstraße 6. Im Adressbuch von 1896 ist die Familie dann in der Zeughausstraße 32 gemeldet. Beim Vater ist vermerkt, dass er Schreiner war und als Fabrikarbeiter sein Geld verdiente. Vermutlich kam er wegen der zahlreich hier vorhandenen Arbeitsplätze, die die aufstrebende Industrie bot, nach Tuttlingen. Drei weitere Brüder von Hedwig wurden in den Jahren 1896, 1897 und 1899 ebenfalls hier geboren. Die beiden jüngeren Brüder starben laut Eintrag im Familienregister im Februar und im Mai 1901 in Ulm. Vermutlich war die Familie zu diesem Zeitpunkt schon von Tuttlingen weggezogen und lebte in oder bei Ulm.

Wir wissen außerdem, dass Hedwig vor ihrer Aufnahme in der Heggbach in Schemmerberg lebte. Schemmerberg ist ein seit 1974 zu Schemmerhofen gehörendes Dorf im Landkreis Biberach/Riß. Es ist nur ca. 12 Kilometer von Heggbach entfernt. In Schemmerhofen leben heute noch Nachkommen der Familie, die wissen, dass es eine Verwandte gab, die wohl eine Behinderung hatte, in der Anstalt Heggbach war und in Grafeneck getötet wurde. Genaueres ist in der Enkelgeneration aber nicht mehr bekannt, da über Hedwig wenig geredet wurde.
Da sich keine Krankenakte erhalten hat, wissen wir nicht, wann Hedwig Franziska Glocker in die Anstalt kam und aus welchem Grund.

Das ursprünglich für Zisterzienserinnen gebaute Kloster Heggbach wurde 1803 aufgelöst, Fürst Franz von Waldburg-Wolfegg-Waldsee stiftete 1884 die Gebäude für ein neues Kloster, in dem die Barmherzigen Schwestern von Reute eine „Anstalt für Epileptische, Schwachsinnige und Unheilbare“ einrichteten. Zu einer dieser drei Kategorien mag Hedwig Glocker gehört haben. Vermutlich wurde sie bereits als behindertes Kind geboren.

Bekannt ist aber, dass Hedwig Glocker bis 14. September 1940 in Heggbach lebte und dann in die Heilanstalt Zwiefalten als Zwischenanstalt verlegt wurde. Am 4. Oktober 1940 holten die grauen Busse der SS sie dort ab und brachten sie zusammen mit anderen Patienten nach Grafeneck, wo sie noch am gleichen Tag getötet wurde. Dem Standesamt Tuttlingen, in dem die Geburt dokumentiert wurde, teilte man mit, dass sie am 20. Oktober 1940 in Sonnenstein in Sachsen verstorben sei. Diese falschen Angaben sind häufig bei Euthanasieopfer zu beobachten. Sie verschleierten die tatsächlichen Umstände der Ermordung.

Wir denken an Hedwig Glocker.

Familienbild Glocker; v.l. Hedwig, Franziska geb.Rack, Johann, Otto Glocker
Familienbild Glocker; v.l. Hedwig, Franziska geb. Rack, Johann, Otto Glocker
Stolperstein Anna Schauer
Stolperstein Anna Schauer
Anna Schauer wurde in eine wenig intakte Familie geboren; Sie war intelligent und selbstständig. Vielleicht wurde ihr religiöser Eifer und ihre Phantasie als etwas ungewöhnlich wahrgenommen. Als sie 32 Jahre alt war, erkrankte sie psychisch und wurde in eine Heilanstalt eingewiesen, die sie mit einer Ausnahme nicht mehr verließ. 1940 wurde sie im Alter von 44 Jahren in Grafeneck ermordet. Wer war Anna Schauer?

Anna Schauer kam am 11. April 1896 in Tuttlingen als Tochter des aus Neuhausen ob Eck stammenden Schuhmachers Hermann Schauer und dessen erster Ehefrau Rosine geborene Reichle in der Olgastraße 30 zur Welt. Ihr Vater arbeitete als Wanderschuhmacher auf Stör und war wenig zuhause. Die Familienverhältnisse werden als problematisch geschildert, da sich der Vater wenig um die Familie kümmerte und zudem Probleme mit dem Alkohol hatte. Die Mutter wiederum litt unter der Situation, erkrankte und starb. Der Arzt vermerkte in der Akte „ist an TBC oder Kummer gest.?“ Nach dem Tod der Mutter heiratete der Vater erneut.

Anna besuchte die Schule, fiel durch besondere Frömmigkeit auf, war arbeitsam und gefällig. Als etwas eigenartig wurde sie schon wahrgenommen, sie war unruhig und regsam und las viel. Nach ihrem Schulabschluss arbeitete sie in München als Dienstmädchen, u.a. in einem Haushalt mit einer sehr religiösen Frau, von der sie viel annahm. Die Dienstherren gehörten der „Christlichen Wissenschaft (Christian Science)“ an, was sie in ihrem religiösen Eifer bestärkte. Dann war sie wieder zuhause, konnte den Vater aber nicht ertragen. Später war sie in Heilbronn tätig, dann in einer Tuttlinger Schuhfabrik, in der sie gut verdiente.

Um 1920 war sie verlobt, löste das Verlöbnis aber, da ihr zukünftiger Ehemann nicht zu ihrer religiösen Gemeinschaft gehörte. Sie brachte sich bei den Altpietisten ein, beteiligte sich an der Volksmission und las religiöse Schriften. Nach längerer Arbeitslosigkeit fand sie wieder eine Stellung als Dienstmädchen. Dann wurde sie erneut arbeitslos, was sie sehr belastete. Sie klagte oft über Nervenschmerzen.

Sie wurde 1928 wegen Hysterie in das Kreiskrankenhaus Tuttlingen eingeliefert und von dort dann in die Heilanstalt Rottenmünster überwiesen. Der Arzt, der sie in die Heilanstalt einwies, schilderte am 19. November 1928, dass sie 14 Tagen vor ihrer Einweisung in einem medizinischen Buch über „Neurasthenie“ gelesen und sofort gesagte hatte, dass sie diese Krankheit habe und unheilbar krank sei. Bei ihrer Einlieferung gab sie an, nicht stehen zu können. Sie hatte Halluzinationen, redete wirr, hörte Stimmen, sprach den Arzt als Jesus, oder als ihren Sohn an. Insgesamt redete sie sehr viel, vor allem über religiöse Themen. Der Arzt bezeichnete sie daraufhin als logorrhoisch. 1930 holten sie ihre Geschwister nach Hause, wo sie sehr unruhig war, so dass sie einen Monat später wieder in die Heilanstalt zurück gebracht wurde. Sie wurde dort mit leichten Handarbeiten beschäftigt. Ihr Zustand besserte sich aber nicht, er verschlechterte sich zusehends. Eine katatone Form der Schizophrenie wurde diagnostiziert. In Rottenmünster blieb sie bis zum 4. September 1939, dann wurde sie mit mehreren Kranken in die Heilanstalt Weissenau überführt. Ihre Krankenakte endet am 18. August 1940 mit dem Eintrag „tut nichts“, was bei einem schwer kranken Menschen nicht verwundert. Am 5. Dezember 1940 brachten die grauen Busse der SS sie nach Grafeneck, wo sie getötet wurde.

Wir denken an Anna Schauer.
Stolperstein Zeeb
Stolperstein Heinrich Zeeb
Adolf Heinrich Zeeb erblickte am 2. September 1881 als Sohn des Bierbrauers und Deutschhofwirts Benjamin Friedrich Zeeb und dessen Ehefrau Anna Rosina geb. Eyrich das Licht der Welt.

Er war das fünfte von 12 Kindern des Ehepaars, das gemeinsam mit Adolf Zeeb, dem Bruder des Vaters die Brauerei Deutscher Hof samt Wirtschaft, Branntweinbrennerei und Presshefefabrik betrieb. Es war die größte Brauerei in Tuttlingen und erstreckte sich auf ein ganzes Quartier zwischen Möhringer Straße und Zeughausstraße. Heinrich erlernte den Beruf des Kaufmanns. Am 19. März heiratete er seine Jahrgängerin Klara Charlotte Kern. Es fand eine Doppelhochzeit statt, bei der seine Schwester den Rechtsanwalt Dr. Friedrich Schäfer heiratete. Sein damals bereits verstorbener Schwiegervater, war ebenfalls Kaufmann gewesen und hatte das Manufakturwarengeschäft Gebr. Kern in der Bahnhofstraße 31 (heute Kohler-Gering) betrieben. Außerdem führte er eine Auswanderungsagentur. Diese Agentur übernahm Heinrich und leitete sie in seinem Elternhaus in der Möhringer Str. 68 weiter. Er vermittelte Schiffspassagen der Norddeutschen Lloyd in Bremen. Es existierten damals zwei weitere Auswanderungsagenturen. Allerdings dürfte das „große“ Geschäft vorbei gewesen sein, da die Auswanderungsströme nachließen und mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs ganz zum Erliegen kamen.

Die Familie lebte zunächst im Deutschen Hof in der Möhringer Straße 68. Über seine Erkrankung und wann sie ausbrach ist wenig bekannt. Im Geburtsregister wird erwähnt, dass er Kaufmann in Brüssel gewesen sein soll. Allerdings findet man ihn im Adressbuch von 1911 noch als Brauereidirektor und Auswanderungsagent unter der Adresse Möhringer Str. 47. Aber bereits 1920 lebte seine Frau ohne ihn bei ihrer Mutter in der Möhringer Str. 113. Seine Frau reiste 1921 unter dem Namen Klara Zeeb-Kern mit dem Schiff Hudson der Norddeutschen Lloyd in die USA und lebte dort bei einem Verwandten. Heinrich taucht im Adressbuch 1920 nicht mehr auf. Offensichtlich war er schon in die Heilanstalt Rottenmünster gebracht worden. Der Beginn seiner Erkrankung muss also im 2. Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts gesucht werden. Dies wirft natürlich die Frage auf, ob sie im Zusammenhang mit dem Ersten Weltkrieg steht, was sich bisher nicht belegen lässt. Bekannt ist in der Familie noch, dass er wissenschaftlich interessiert war und sich immer wieder neue Literatur wünschte.

Von der Heilanstalt Rottenmünster wurde er am 13. Dezember 1922 in die Heilanstalt Schussenried verlegt, wo er auch blieb. Offensichtlich bezahlte die Familie für die Unterbringung in der Anstalt, denn in den Fürsorgeverzeichnissen taucht er nicht auf. Belegt ist, dass er am 18. Juni 1940 auf der Transportliste stand, die Pfleglinge der Heilanstalt Schussenried nach Grafeneck brachte. Dort wurde er noch am selben Tag getötet.

Wir denken an Heinrich Zeeb.
Schwarz-weiß Bild von Heinrich Zepf
Heinrich Zepf
Heinrich Zepf war ein aufrechter Sozialdemokrat und Gewerkschafter, der seiner Gesinnung während der NS-Diktatur treu blieb und im Untergrund wirkte. Inhaftierungen, Schikanen und Hausdurchsuchungen waren die Folge. Wer war Heinrich Zepf?

Heinrich Zepf wurde am 23. April 1893 in Tuttlingen als Sohn des Schuhmachers Heinrich Zepf und dessen Ehefrau Maria Anna geb. Hepfer geboren. Er arbeitete als Maschinenzwicker bei der Fa. Rieker, wo er auf diese Tätigkeit angelernt wurde. Von 1913 bis Ende 1918 war er beim Militär und nahm am Ersten Weltkrieg teil. Nach seiner Rückkehr heiratete er am 23. November 1919 Anna Berta Rack, mit der er zwei Kinder hatte.

Nach seiner Rückkehr aus dem Ersten Weltkrieg begann sein politisches Wirken, das zunächst noch unter dem Eindruck der Kriegserlebnisse stand. Es wundert nicht, dass er der Friedensgesellschaft beitrat und dort Vorstandsmitglied wurde.

Schon in seiner frühsten Jugend war er in sozialistischen und gewerkschaftlichen Jugendorganisationen engagiert. Er trat in die SPD ein, in deren Vorstand des Ortsverbandes er berufen wurde. Als spätestens 1926 eine Ortsgruppe des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold gegründet wurde, übernahm er dessen Vorsitz. Das Reichsbanner war ein politischer Wehrverband zum Schutz der demokratischen Republik. Seine Aufgabe sah das Reichsbanner hauptsächlich in der Verteidigung der Weimarer Republik gegen Feinde aus den nationalsozialistischen, monarchistischen und kommunistischen Lagern. Er trat für SPD und Reichsbanner auch als Referent auf.

Zudem war Heinrich Zepf gewerkschaftlich organisiert und war Vorsitzender der Zahlstelle des Verbands Schuhmacher Deutschlands und Vorsitzender des Ortsausschusses der Vereinigten Gewerkschaften (d.A.D.G.B).

Nach der Machtübernahme durch Adolf Hitler wurde er nach der Neubildung des Gemeinderats am 27. April 1933, die analog zu den Wahlergebnissen der Märzwahlen erfolgen sollte, in den Gemeinderat berufen. Dieses Mandat trat er nicht an. Zu diesem Zeitpunkt war ein Teil der berufenen SPD-Mitglieder im KZ Heuberg in Schutzhaft. Auch er war bereits am 28. März 1933 verhaftet worden und bis 14. April 1933 im Gefängnis in Tuttlingen in Schutzhaft.
Als der Gemeinderat sich dann am 8. Mai 1933 neu konstituierte, war er erneut verhaftet mit dem Vorwurf Verbandsgelder der Gewerkschaften veruntreut zu haben. Der Vorwurf seitens der Staatsanwaltschaft wurde im Juli fallen gelassen, da es keine Anhaltspunkte für ein Vergehen gab. Der spätere Gewerkschaftspräsident Fritz Fleck beurteilte die Verhaftung nach dem Krieg als „ganz allgemein betriebene systematische Verhetzung der Nationalsozialisten, um das Ansehen der Gewerkschafts- und Parteifunktionäre zu untergraben.“ Er bewertet das Vorgehen: „Diese Art der Machtergreifung ist eine der dunkelsten und wohl unfairsten Kampfmethoden der damaligen Machthabern“. Heinrich Zepf lehnte das Gemeinderatsmandat ebenso wie seine Parteigenossen ab, da sie zur Einsicht gekommen waren, dass sie nicht erwünscht seien und sie zudem keine Chance sahen, etwas zu bewirken.

Stolperstein Heinrich Zepf
Stolperstein Heinrich Zepf
Aber auch beruflich spürte er eine Benachteiligung wegen seiner politischen Gesinnung. Auf Wunsch des Gewerkschaftssekretärs Lorenz hatte er in die Schuhfabrik Ernst Reichle gewechselt, um dort die Position der Arbeiter zu stärken. Diese Schuhfabrik wurde im September 1931 liquidiert und Heinrich Zepf wurde arbeitslos. Bei der allgemein angespannten Arbeitslage fand er keine Beschäftigung, da man wohl davon ausging, dass er sich für die Arbeiter einsetzen würde. Nach der Machtübernahme durch die NSDAP hatte er noch schlechte Karten. Am 21. Mai 1934 fand er dann eine Anstellung bei dem Polierscheibenhersteller Hilzinger-Thum als Holzarbeiter. Diese Beschäftigung wurde freilich wesentlich schlechter entlohnt als seine bisherige als Maschinenzwicker.

Aber bereits im Dezember 1934 wurde er von der Gestapo verhaftet und in das Oberndorfer Gefängnis gebracht. Der Gestapomann Bücheler verhörte ihn und warf ihm illegale Tätigkeiten vor, für die er allerdings bei einer Hausdurchsuchung keine Beweise gefunden hatte. Deshalb wurde er nach einem Tag wieder auf freien Fuß gesetzt. Möglicherweise war der Gestapo zu Ohren gekommen, dass Zepf zusammen mit seinem SPD-Genossen Johannes Hengstler Kontakt zu Parteifreunden in der Schweiz unterhielt und Schriften importierte und verteilte. Mehrmals fanden deshalb Hausdurchsuchungen statt, bei denen aber nichts gefunden wurde.
Sein Freund und Arbeitsamtsdirektor Wilhelm Eisenlohr attestierte ihm im Widergutmachungsverfahren: „Die ganzen Jahre von 1933 bis zum Zusammenbruch 1945 war er gehetzt und verfolgt und hat daraus viel materiellen, seelischen und gesundheitlichen Schaden erlitten.“

Nach dem Hitlerattentat sollte Heinrich Zepf erneut verhaftet werden. Er entzog sich aber dieser Verhaftung durch Flucht. Jetzt wurden seine Frau Berta und sein Bruder Leo in Sippenhaft genommen und ins Gefängnis in Tuttlingen gebracht. Daraufhin stellte er sich und wurde am 23. August 1944 inhaftiert. Erst am 19. September 1944 wurde er wieder auf freien Fuß gesetzt.

Trotz seines fortgeschrittenen Alters wurde er Anfang 1945 noch zur Wehrmacht eingezogen und im Volkssturm eingesetzt. Fritz Fleck meinte, dass seine antifaschistische Haltung zu dieser Einberufung Anlass gab. Er kam daraufhin in französische Kriegsgefangenschaft und wurde erst im November 1945 entlassen.

Am 3. September 1949 starb Heinrich Zepf in einer Freiburger Klinik. Fleck meinte im Nachhinein, dass die Kriegsgefangenschaft zur Verschlechterung seines Gesundheitszustandes beigetragen habe. Zepfs Wiedergutmachungsverfahren war bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht behandelt und wurde von seiner Familie weitergeführt und erst am 8. April 1960 mit einer Entschädigungszahlung beschieden.

Wir denken an Heinrich Zepf.

Schwarz-weiß Bild von Heinrich Zepf mit Familie aus Kriegszeiten
Heinrich Zepf mit Familie

Schwarz-weiß Bild der Familie Grotz aus Kriegszeiten
Familie Grotz

Anna Maria Grotz litt seit ihrer dritten Lebensdekade an einer psychischen Erkrankung, die zu einer Einweisung in eine Heilanstalt führte. Leider wissen wir recht wenig über ihr Krankheitsbild, da sich keine Krankenakte erhalten hat. 1920 begann ihr Leidensweg, der mit ihrer Ermordung in Grafeneck 1940 endete. Wer war Anna Grotz?

Anna Maria Grotz wurde am 7. September 1885 in Endingen in Baden am Kaiserstuhl als Tochter des Schuhmachers Philipp Jacob Grotz und dessen in Enge bei Zürich geborenen Ehefrau Maria Grotz geb. Guenthart geboren. Die Familie übersiedelte zu Beginn des 20. Jahrhunderts nach Tuttlingen, da der Vater als Schuhfabrikarbeiter Anstellung fand. Maria Grotz lebte mit ihrer Familie zunächst in der Möhringer Straße 75, dann in der Kaiserstraße 12. Im Adressbuch 1906 wird sie als Kartonagearbeiterin bezeichnet, was den Verdacht nahe legt, dass sie bei der Firma Birk in der Zeughausstraße wirkte. Die Mutter starb 1913 in Tuttlingen, der Vater 1922. 1919 wurde Anna im Kreiskrankenhaus behandelt und anschließend ins Katharinenheim, das damals auch als „Armenheim“ fungierte, aufgenommen. Von dort wies man sie laut Fürsorgeprotokoll vom 23. Juli 1919 in die Kreispflegeanstalt Reutlingen-Rappertshofen ein. Im Fürsorgeprotollbuch wird sie als „schwachsinnige Fabrikarbeiterin“ bezeichnet. Die städtische Fürsorge übernahm die Kosten für ihre Unterbringung, die zum Teil durch den Landesfürsorgeverband erstattet wurden. Kurze Zeit nach ihrer Aufnahme in Reutlingen wurde sie (am 25. Januar 1920) in die Heilanstalt Zwiefalten überführt. Bei der Aufnahme wurde ein ganzes Bündel an Diagnosen erstellt. Sie lauteten: Dementia Praecox, Halluzinationen, Demenz und Schizophrenie. Diese Bezeichnungen vermitteln kein einheitliches Bild. Offensichtlich ist, dass sie den Bezug zur Realität verloren hatte, als sie erkrankte. Es wurde vermerkt, dass sie sie Krankheit bereits seit zwei Jahren habe, so dass man davon ausgehen kann, dass sie um 1918 eintrat. Vielleicht war sie geistig etwas zurückgeblieben und verkraftete die neue Umgebung außerhalb des geschützten Umfelds in der Familie nicht. Von der Psychiatrie in Zwiefalten wurde sie am 8. September 1939 in die Heilanstalt Schussenried verlegt. Die Fürsorgeakten enthalten den Vermerk, dass sie am 1. Juli 1940 verstorben sei. Sie wurde aber bereits am 7. Juni 1940 in Grafeneck getötet, wie die Transportlisten nach Grafeneck beweisen.

Tröstlich ist, dass sie nicht vergessen wurde. Ein Großneffe erinnerte sich an die Erzählungen seiner Oma, die von ihrer Schwester berichtete. Er fand Bilder und Informationen über sie, die jetzt als Informationsquelle zur Verlegung des Stolpersteins verwendet wurden.

Wir denken an Anna Maria Grotz.

Schwaz-Weiß Bild von Anna Grotz
Anna Grotz
Josef Berger
Josef Berger

Zwei Mitglieder der Korbmacherfamilie Berger wurden im KZ Mauthausen getötet: Josef Berger und sein Sohn Franz Berger. Die Familie Berger lebte bis 1938 in einem Wohnwagen und zog durch die Lande, dann hatte sie ihren Wohnsitz in Tuttlingen. Dieses unstete Leben ist in der schriftlichen Überlieferung schwer nachzuvollziehen. Deshalb gibt es nur wenige Spuren der Familie.

Die Geburtsorte der Kinder belegen, dass sich die Familie früher überwiegend im Schweizer und französischen Raum aufhielt. 1921 wurden die Bergers in Deutschland eingebürgert. Im Nationalsozialismus – im Jahr 1935 – wurde diese Einbürgerung durch das Bezirksamt Donaueschingen widerrufen und alle galten als staatenlos. Trotzdem wurde versucht, die Nichtsesshaften anzusiedeln. In diesem Zusammenhang wurde die Familie Berger 1938 in Tuttlingen in der Meldekartei registriert. Sie wohnte im Gebäude Donaustraße 15. Auf der Meldekartei der Ehefrau von Josef Berger, Pauline Berger geborene Baumgartner, wurde notiert, dass sie vom rassenhygienischen Institut Berlin untersucht wurde. Die so genannte Rassendiagnose lautete „Nicht-Zigeuner“.

Karte von Tuttlingens Innenstadt, in der Bergers Wohnhaus um 1901 markiert ist
Wohnhaus Tuttlingen 1901

Himmlers Erlass vom 8. Dezember 1938, der grundlegend für die Verfolgung von Sinti und Roma war, unterscheidet zwischen „Zigeunern“, „Zigeunermischlingen“ sowie „nach Zigeunerart umherziehende Personen“. Mit dem letzten Terminus waren u. a. die Jenischen gemeint.

Die Mitglieder der Familie Berger waren Jenische. Jenische gehören zu einer ethnischen Gruppe, die ihren Ursprung in der europäischen Armutsbewegung des 18. und 19. Jahrhunderts hat. Die Jenischen haben eine eigene Kultur und eine eigene Sprache entwickelt. Weil ihre Gewerbe sie oft veranlassten, den Ort zu wechseln, hat sich das Reisen oder Fahren zu einem wesentlichen Merkmal ihres kulturellen Selbstverständnisses entwickelt.

Bild von oben auf das Berger Haus. Ein blauer Pfeil markiert den Standort.
Wohnhaus Berger

Die Familie Berger versuchte man, 1938 sesshaft zu machen. Franz und Josef Berger wurden verhaftet und am 27. Juni 1938 ins KZ Dachau eingeliefert und von dort am 27. September 1939 ins KZ Mauthausen überstellt. Ebenso wurde ein weiterer Sohn der Familie, Anton Berger, am 27. Juni 1938 in das KZ Dachau eingeliefert und später in das KZ Mauthausen überstellt. Er überlebte das KZ Dachau und das KZ Mauthausen. Er wohnte aber nicht in Tuttlingen sondern in Riedöschingen.

Der Vater, Josef Berger, wurde am 25. Januar 1876 in Ueken im Kanton Aargau in der Schweiz geboren. In Dachau hatte er die Häftlingsnummer 17701. Er starb am 5. Januar 1940 um 13.30 Uhr im KZ Mauthausen bei Linz in Österreich. Also Todesursache wurde dort „Apoplexie“ genannt.

Sein Sohn Franz Berger wurde am 16. Februar 1913 in Cilly in Frankreich geboren. In Dachau hatte er die Häftlingsnummer 17734. Er wurde im Alter von 27 Jahren am 7. Juli 1940 um 8.30 Uhr im KZ Mauthausen getötet. Bei ihm lautete die offizielle Diagnose „oberer Dickdarmkatarrh“. Bekannt ist, dass die angegeben Todesursachen nicht der Wahrheit entsprachen und erfunden wurden, um einen natürlichen Tod vorzuspiegeln.

Die Mitglieder der Familie Berger wurden im KZ Mauthausen als „AZR“-Häftling kategorisiert. Häftlinge der Kategorie „AZR“ oder „ASR“ („Arbeitszwang Reich“ oder „Arbeitsscheu Reich“) wurden im Konzentrationslager als „Asoziale“ bezeichnet und mit einem schwarzen Winkel gekennzeichnet. Üblicherweise wurden diese Häftlinge durch die Kriminalpolizei in ein Konzentrationslager eingewiesen, weil sie aus Sicht der Nationalsozialisten durch ihr sozial abweichendes Verhalten „die Allgemeinheit gefährdeten“.

Der in Tuttlingen angesiedelte restliche Teil der Familie ging einer regelmäßigen Beschäftigung nach und arbeitete in Tuttlinger Betrieben, trat also keinesfalls als sozial auffällig in Erscheinung. Als nach dem Krieg ein Denkmal für die Opfer des Nationalsozialismus auf dem Tuttlinger Friedhof errichtet wurde, führte man auch Franz Berger auf, was belegt, dass die Familie zumindest vorübergehend ihren Platz in Tuttlingen gefunden hatte. Die Frau von Josef Berger, Pauline Berger geb. Baumgartner, starb 1945 in Tuttlingen. Die anderen Familienmitglieder zogen bald nach Kriegsende weiter.

Das KZ Mauthausen
Das Konzentrationslager Mauthausen war das größte Konzentrationslager der Nationalsozialisten auf dem Gebiet Österreichs. Es befand sich 20 Kilometer östlich von Linz in Mauthausen und bestand vom 8. August 1938 bis zu seiner Auflösung nach der Befreiung seiner Insassen durch US-amerikanische Truppen am 5. Mai 1945. Im KZ Mauthausen und seinen Nebenlagern wurden rund 200 000 Menschen inhaftiert, von denen mehr als 100 000 getötet wurden.

Die Aufgabe der Häftlinge war es, Baracken zu bauen und im Steinbruch zu arbeiten. Die ersten 20 Baracken wurden in den Jahren 1938 bis 1940 erbaut. In dieser Zeit waren auch Franz und Josef Berger in dem KZ. Zu den besonders schlimmen Stationen im KZ Mauthausen gehörte die sogenannte Todesstiege, eine Steintreppe, die den Steinbruch, in dem die Häftlinge arbeiten mussten, mit dem eigentlichen Konzentrationslager Mauthausen verband. Die Beteiligten des Steinträgerkommandos schleppten mehrmals täglich Granitblöcke über die insgesamt 186 Stufen der Treppe 31 Meter nach oben. Der Weg vom Kopf der Todesstiege hinauf ins Lager führt teilweise knapp am Abbruchhang des Steinbruchs vorbei. Eine 50 Meter hohe, fast senkrechte Felswand wurde von der SS dazu missbraucht, Häftlinge hinabzustoßen, wo ihre Körper entweder durch den Aufprall auf dem Stein zerschmettert wurden oder wo sie im Regenwasserteich ertranken. Sie nannten diese Wand zynisch die Fallschirmspringerwand.
In Mauthausen gibt es eine Gedenkstätte, in der auch an Josef und Franz Berger erinnert wird.

Bild der Todesstiege in Mauthausen
Todesstiege Mauthausen
Sybilla Kramer (23.2.1891 - 03.08.1980) wurde in Brühl als Tochter in die jüdische Familie Bähr geboren. Ihre Eltern waren Simon Bähr (1862-1942) und Regina Hirtz (auch Hertz geschrieben). Sie hatte mindestens zwei Brüder und eine Schwester. Ihre Eltern ließen sich 1907 in Köln scheiden.

Ihr Ehemann Richard Kramer (29.12.1885 - 14.11.1963) wurde 1885 in Sandersleben in Sachsen-Anhalt als Sohn des dänischen Lederhändlers Gottlieb Kramer und der Auguste Kramer geb. Ziercke geboren. Er war von 1914 bis 1918 Soldat und kämpfte im Ersten Weltkrieg an der Westfront. Am 11. November 1915 heirateten Sybilla und Richard Kramer in Sybillas Heimatort Brühl. Sybilla folgte 1918 ihrem evangelischen Mann, Richard Kramer, in die Kreisstadt Tuttlingen, der sich dort nach seiner Soldatenzeit im Ersten Weltkrieg mit einem eigenen Geschäft niederließ.

Sybilla und Richard Kramer stehen vor einem schwarzen Auto
Sybilla und Richard Kramer

Richard Kramer bewährte sich als guter Geschäftsmann. Bis zu 20 Personen hatte er in seinem Betrieb beschäftigt. Auch Ende der 1920er Jahre konnte er trotz finanzieller Verluste in der Weltwirtschaftskrise seinen Mitarbeiterstamm halten, als so manche Firma Kurzarbeit anmeldete oder den Betrieb ganz einstellte. Er begründete hier die so genannten Erkate-Werke, die Hochdruckschmiergeräte herstellten. Nach 1933 entwickelte und produzierte er für die Rüstungsindustrie Fernregulierungen von Flugzeugmotoren. Er war der einzige Hersteller dieses Zubehörs im ganzen Reichsgebiet und das Rüstungsministerium konnte schlecht auf ihn verzichten. Allerdings fürchtete er, dass ein so wichtiger Betrieb leicht der Arisierung anheimfallen und jemand anderer das Geschäft leiten könnte.

Vor Ort spürte er nach 1933 eine Benachteiligung, die seine jüdische Ehefrau aber auch ihn betraf. Er erhielt immer wieder Schreiben von der Gestapo, in denen er zu den Vermögensverhältnissen von Sybilla befragt wurde. Sie durfte abends nach 8 Uhr nicht mehr auf der Straße sein, keine Kinos und Gaststätten besuchen, sie wurde aus dem Wählerverzeichnis gestrichen und Ähnliches. Die Ehe mit der jüdischen Sybilla Kramer war den Parteibonzen ein Dorn im Auge. Des Öfteren versuchte man ihn, zu einer Trennung von seiner Frau zu bewegen. Da er dies nicht tat, verliehen massive Benachteiligungen in geschäftlicher Hinsicht der Forderung Nachdruck. Von 1940 bis 1945 hatte er meist fünf bis acht Arbeiter beschäftigt. Zwei seiner wichtigen Fachkräfte wurden bei ihm abgezogen und den Chironwerken zugeteilt. Lehrlinge durfte er keine ausbilden. Zudem hatte er um 1940 die Absicht gehabt, ein Fabrikgebäude zu errichten. Der Kreisleiter Gottlieb Huber hatte ihm signalisiert, dass diesem Vorhaben nichts entgegenstehen würde. Er beauftragte den Architekten Gustav Teufel mit der Planung. Als es dann aber um die Genehmigung ging, wurde diese ihm verwehrt. Seit 1933 fühlte er sich zusehends schikaniert und Angriffen ausgesetzt. Wiederholt wurde er kontrolliert. Er selber gab an, dass er das 100-fache hätte leisten können, wenn er nicht drangsaliert worden wäre. 1943 wurde er in die Gestapo-Zentrale in Stuttgart in das Hotel Silber einbestellt. Der dortige Gestapo-Beamte setzte ihn erneut unter Druck, dass er sich scheiden lassen soll und dann unbehelligt leben könnte. Seine Frau würde dem „Judentum verfallen“. Da er dies ablehnte, wusste er, dass er auf der Abschussliste stand. „Ich bin kein Schuft, der seine Frau in der Not im Stich lässt“, kommentierte er dieses Ansinnen. Richard Kramer wusste, dass er damit das Todesurteil seiner Frau unterschreiben würde, weil deren Leben nur solange halbwegs sicher war, wie sie mit einem nichtjüdischen, arischen Mann verheiratet war.

Auf einer Karte der Innenstadt von Tuttlingen ist das Haus der Kramers markiert
Kramer Haus

Ende August 1944 wurde der langjährige Kreisleiter Gottlieb Huber nach Göppingen versetzt. An seine Stelle trat der sehr linientreue Immanuel Baptist und damit änderte sich das politische Klima. Während Richard Kramer mit Gottlieb Huber bekannt war und dieser keine Maßnahmen gegen das Ehepaar einleitete, vertrat Baptist die genaue Parteilinie der NSDAP und bald wurde die Lage ernst.

Das Kramer Wohnhaus von außen
Kramer Wohnhaus

Im Sommer 1944 war ein Inspekteur der Rüstungsinspektion VA mit dem Namen Süß bei Kramer, der ihn anschrie, warum er nicht in der DAF sei. Richard hatte ihn zurechtgewiesen und kurze Zeit später, am 28. August 1944, wurde die Stilllegung seines Betriebs verfügt, woraufhin Richard einen Herzanfall erlitt. Der seelische Druck, unter dem er die ganze NS-Zeit über stand, hatte zu gesundheitlichen Beschwerden geführt. Er meinte im Nachhinein, dass er wohl von einem Mitarbeiter, Emil Projahn, denunziert worden war. Er musste seine Maschinen verzeichnen und es stand zu befürchten, dass diese abgeholt werden würden. Letztendlich konnte der Betrieb aber in seiner Abwesenheit weitergeführt werden. Im November 1944 mehrten sich Anzeichen, dass etwas gegen das Ehepaar im Gange war und er wurde gewarnt, dass er verschwinden solle. Zudem kamen Verwandte seiner Frau bei ihnen vorbei, die sich in einer ähnlichen Situation befanden und in die Schweiz fliehen wollten. Zwei ihrer Brüder und ihre Schwester waren bereits im KZ, ebenso einige Neffen, obwohl fast alle mit Christen verheiratet waren.

Jetzt machte Richard sich auf die Suche nach einem Versteck für seine Frau und fand es in Fridingen im Donautal im Ziegelhof bei der Familie Heni, weit abgeschieden vom Dorf. Allerdings residierte in geringer Entfernung die NS-Reichsfrauenführerin Gertrud Scholtz-Klink auf dem Schloss Bronnen. Aber der Hof war sehr abgeschieden und es kamen nur selten Menschen vorbei. Inzwischen hatte Richard die Mitteilung erhalten, dass er sich als „jüdisch Versippter“ am 20. November 1944 bei der Gestapo-Sammelstelle in Bietigheim einfinden sollte. Am 19. November machte Sybilla sich also auf den Weg nach Fridingen zur Familie Heni.
Von Bietigheim aus wurde Richard Kramer dem Mischlingslager Leimbach bei Halle (OT Lager Organisation Todt) [1] Walzwerk Hettstett überstellt, das nicht weit von seinem Geburtsort entfernt war. Vom 20. November 1944 bis 25. Februar 1945 arbeitete er dort für die Mansfelder Kupfer- und Messingwerke, zunächst im Freien, später in der Schreinerei. 3000 Reichsmark hatte er mitgenommen. Damit versuchte er für sich und andere Häftlinge durch Bestechung von Wachbeamten, die Lebensbedingungen zu verbessern. Insbesondere kümmerte er sich um den erkrankten Wilhelm Schlenker aus Schwenningen.

Plakat für Bayern-Kraftrad, Vertrieb durch Richard Kramer

In der Haft schrieb er einen Brief an Albert Speer, den Reichsminister für Rüstung und Munition, und bat ihn, sich für ihn zu verwenden, was dieser auch tat. Als bereits bekannt war, dass er entlassen werden würde, glitt er auf einem Ölfleck aus und stürzte am 10. oder 11. Februar eine eiserne Treppe über zwei Stockwerke hinab. Er meinte, es seien etwa 9 Meter Höhe gewesen, die er hinunter gefallen sei. Man brachte ihn ins Knappschaftskrankenhaus Hettstedt. Dort stellte man fest, dass er großes Glück gehabt hatte, denn es war nichts gebrochen. Allerdings hatte er starke Prellungen, die ihn Zeit seines Lebens plagen sollten. Im KZ brachen sie morgens um 4 Uhr auf und kehrten erst zwischen 18 und 19 Uhr ins Lager zurück. Zudem war die Ernährung schlecht und er magerte deutlich ab. 300 Gramm Suppen und Brot bei schwerer körperlicher Arbeit, war die Tagesration. Als er heimkehrte, war er so abgemagert, dass ihm der Ehering vom Finger fiel und er drei Paar Socken in den Schuhen tragen musste.

Bevor Richard Kramer nach Bietigheim abreiste, gelang es ihm jedoch noch, seine Frau Sybilla rechtzeitig bei Fridingen an der Donau zu verstecken. In seiner „Persilschein“-Liste, mit denen er nach dem Krieg verschiedene belastete Personen gut beleumundete, erwähnte er, dass der Fabrikant Hermann Binder und der Kaufmann Ernst Schweizer, beide in der Kaiserstraße 10 ansässig, ihm als besondere Freunde behilflich waren, seine Frau während der NS-Zeit zu verstecken. Das Verbergen von Sybilla Kramer glückte den Beiden aber nur, weil Sybilla bei ihrer Schwiegermutter und Nachbarn die Nachricht gestreut hatte, dass sie zurück nach Köln reisen wolle. Als die Frauen keine Briefe mehr von Sybilla erhielten, gingen diese davon aus, dass sie im stark bombardierten Köln umgekommen sei. Die zwischenzeitlich per Steckbrief von der SS im ganzen Land gesuchte Sybilla konnte sich sechs Monate, bis zur Besetzung Tuttlingens durch die Franzosen, auf dem abgelegenen Hof der Familie Heni verstecken, der durch starke Überschwemmungen zu dieser Zeit und durch einen großen Bernhardiner vor überraschenden Besuchen geschützt war. Obwohl zum Teil bis zu sechs verwandte Familien der Henis von ihrem Verbleib auf dem Hof wussten und sie deshalb in größter Gefahr schwebte, ausgeliefert zu werden, wurde Sybilla von keinem der Mitwissenden verraten. Für ihren Aufenthalt gab sie der Familie Geld und überlebte dort, obwohl sie keine Lebensmittelkarten besaß. Besonders einen Knecht bestach sie immer wieder, um ihn von einer Denunziation abzuhalten. Sie schwebte in permanenter Angst, verraten zu werden.

Als Richard Ende Februar zurückkehrte, hatte die NSV einen Teil seiner Wohnung in der Kirchstraße 22 an einen SD-Mann vermietet. Richard bezahlte während seiner KZ-Zeit die volle Miete an den Vermieter. Der Untermieter jedoch entrichtete seine Miete an die NSV. Der größte Teil der im Keller gelagerten Vorräte war zudem verschwunden.

Trotz des seit 1933 sukzessiven und absichtlich geschürten Antisemitismus konnte Sybilla Kramer vor allem durch die Familie Heni, die mit dem Verstecken von Sybilla Kramer ein großes Risiko auf sich nahm, überleben. Die Tuttlinger Bevölkerung sowie der 1944 abberufene Kreisleiter Gottlieb Huber hielten eine schützende Hand über Sybilla und Richard Kramer durch die ganze nationalsozialistische Zeit hindurch und sicherten so deren Überleben. In einem Interview lange nach Ende des Kriegs beteuerte Sybilla Kramer: „Diesen Leuten verdanke ich mein Leben!“.

Nach dem Krieg versuchte das Ehepaar zumindest einen Teil ihrer Auslagen erstattet zu erhalten. In einem ersten Bescheid wurde eine Wiedergutmachung abgelehnt, da das Wiedergutmachungsgericht der Ansicht war, dass Sybilla sich ohne konkrete Bedrohungssituation verborgen gehalten hätte. Da wurde sie wütend. „Ich habe gewusst, dass ich ermordet werden sollte“, schrieb sie in die Antwort. Sie nannte die Zahl von 40 ermordeten Familienmitgliedern – allen voran ihre beiden Brüder, von denen einer kriegsversehrt war. Nach einem ihrer ermordeten Brüder – Leopold Bähr – wurde später in ihrem Heimatort Brühl ein Platz benannt. Richard wollte man die durch seinen Sturz erlittenen Beeinträchtigungen ebenfalls nicht anerkennen. Sie legten Widerspruch ein und erhielten dann endlich 1957 einen positiven Bescheid, der den beiden einen geringen Geldbetrag als Wiedergutmachung zusprach. Richard Kramer starb in Tuttlingen 1963, Sybilla lebte noch bis 1980. Sie konnte ihre Erlebnisse in einem Tonbandinterview schildern.
 

[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Sonderkommando_J


Karl Eugen Menger wurde am 19. August 1884 in Tuttlingen als siebtes Kind des Schuhmachers Georg Friedrich Menger (1848-1927) und der Auguste Menger geb. Wiesenfahrt (1850-1920) geboren. Der Vater stammte aus einer alten Tuttlinger Familie und war evangelisch, die Mutter war aus Weilheim und katholisch, weshalb der Sohn katholisch getauft wurde. Das Ehepaar hatte insgesamt zehn Kinder von denen allerdings nur vier das erste Lebensjahr überstanden. Die Familie lebte im Gebäude Oberamteistraße 22, das ihr gehörte.

Von Karl Eugen wissen wir, dass er das Instrumentenmacherhandwerk erlernte. 1913 heiratete er die in Tübingen geborene Näherin Emma Winkle (geb. 1886). Beide hatten zu diesem Zeitpunkt ihren Wohnsitz in Tuttlingen. Eugen wurde zum Militär eingezogen und erlebte den Ersten Weltkrieg bei den Grenadieren. 1914 wurde seine Tochter Maria in Stetten im Remstal geboren, sein Sohn folgte im Jahr 1915 mit Geburtsort in Stuttgart.

Nach dem Krieg ist das Ehepaar nur gelegentlich in Tuttlingen. Ab 1927 wohnte Eugen Menger ohne seine Familie bei seinem Vater und seiner Schwester Margarete im elterlichen Haus in der Oberamteistraße 22. Sein Vater starb am 9. Juni 1927. Im Oktober 1927 packte Emma Menger ihre Sachen und ließ diese mit der Bahn nach Tuttlingen bringen. Als Adresse gab sie Oberamteistraße 22 an. Zuvor hatte sie um eine Wohnung beim Fürsorgeamt in Tuttlingen angefragt. Dieses hatte jedoch die Verantwortung für die von Eugen Menger getrennt lebende Frau abgelehnt. Sie gab an, dass sie ihre Wohnung in Stetten im Remstal hatte verlassen müssen, nicht wusste wohin und deshalb nach Tuttlingen aufgebrochen war.

Die Kosten für die Fracht konnte sie nicht bezahlen und so finanzierte das Fürsorgeamt vor. Sie selber wurde mit ihren Kindern im Katharinenheim einquartiert, das auch die Funktion hatte, Obdachlose aufzunehmen. Noch in derselben Sitzung am 22. Dezember 1927, in der das Fürsorgeamt den Fall Emma Menger besprach, wurde auch über das Schicksal des Eugen Menger gesprochen. Ein Zeugnis von Dr. Kupferschmid bezeichnete ihn als geistig nicht normal und empfahl die Verbringung in eine Anstalt, „in der er zur regelmäßigen Arbeit angehalten wird.“

Seine Schwester, die zuvor für ihn gesorgt hatte, plädierte auch für die Verbringung, da sie ihn nicht behalten konnte. Die Fürsorgestelle recherchierte und kam zum Ergebnis, dass die Heil- und Pflegeanstalt Liebenau der geeignete Ort für ihn sei. Bereits am 3. September 1928 verhandelte man den Fall erneut. Die Schwester von Eugen Menger hatte ihrer Zustimmung zur Einweisung zurückgezogen, war aber im August beim Polizeiamt und hatte über das Verhalten ihres Bruders Anzeige erstattet. Erneut beschloss man Eugen Menger nach Liebenau zu verbringen. Offensichtlich geschah aber nichts, denn Eugen beantragte am 27. Januar 1930 beim Fürsorgeamt die Abgabe von Fichtennadelbädern, deren positive Wirkung ärztliche Atteste unterstrichen und deren positiven Einfluss auf seine Gesundheit er schon 1927 erlebt hatte.

Im Protokoll des Ausschusses, der über das Gesuch zu entscheiden hatte, heißt es: “Menger ist seit längerer Zeit arbeitslos und bezieht Unterstützung … er gibt, vor nervenkrank zu sein. Ihm fehlt jede Lust zur Arbeit.“ Das Protokoll führt aus, dass man versucht habe, ihn in einer Anstalt unterzubringen, die Schwester aber die Zustimmung zurückgezogen habe. Der Ausschuss ist dann der Ansicht, dass frühere Anwendungen auch nichts geholfen hätten und jetzt nur ein Anstaltsaufenthalt Ergebnisse zeigen würde. Deshalb lehnten sie den Antrag ab. Am 27. Juli 1931 war er in Rottweil und erkrankte dort. Er wurde ins Krankenhaus eingeliefert, die Auslagen übernahm die Städtische Fürsorge Tuttlingen.

Am 14. Juli 1928 wurde die Ehe vom Landgericht Rottweil, Zivilsenat, geschieden. Damals war es noch üblich einen Schuldigen zu benennen, der für das Ehe-Aus verantwortlich war. In diesem Fall war es der Ehemann. Als er später in der Klinik zur Scheidung befragt wurde, meinte er, dass es Streitigkeiten gab, weil seine Frau ihn nicht in die Kirche gehen lassen wollte, und zudem eifersüchtig gewesen sei. Karl Eugen lebte zunächst bei seiner Schwester Margarete im Haus Oberamteistraße 22, seine Ehefrau war im Katharinenheim, Stockacher Straße 1, mit ihren Kindern, zog aber bereits 1929 nach Strümpfelbach im Remstal.

Am 2. September 1931 meldete er sich in Tuttlingen ab, mit dem Ziel, auf Wanderschaft gehen zu wollen. Vermerkt ist auf der Karteikarte, dass er sich in Seyda bei Halle aufgehalten hatte. In Seyda gab es eine Arbeiterkolonie für brotlose Arbeiter nach dem Vorbild Bodelschwings, die von dessen Vetter gegründet worden war. Dort hielt er sich zeitweise auf. Im Mai 1933 war er dann in Berlin und meldete sich bei der Wohlfahrtsstelle des Städtischen Obdachs. Dort gab er an, auf Wanderschaft zu sein und als Instrumentenmacher schwer Arbeit zu finden. Immer wieder ging er kurzfristig Gelegenheitsarbeiten nach. Er hielt sich längere Zeit in Berlin auf, lebte im Bewahrungshaus Berlin Lichtenberg und war dort geraume Zeit auf der Krankenstation. Von dort ließ er sich ein Armutszeugnis (13.5.1933) ausstellen und strengte eine Unterhaltsklage gegen seine Kinder an. 1934 beschlossen die Berliner Behörden ihn in eine Arbeiterkolonie einzuweisen, da er einen etwas beschränkten Eindruck hinterließ. Von April bis Juli 1934 war er in der Arbeiterkolonie Seyda und anschließend in der Arbeiterkolonie Treuenbritzen als Selbstmelder. Anschließend war er im Männerheim in Berlin, manchmal auch im Eduard-Müller-Haus (Kolpingwerk). Immer wieder war er auf Krankenstation und gab chronischen Gelenkrheumatismus als Beschwerde an.

Im November 1935 ist er wieder im Arbeits- und Bewahrungshaus Rummelsburg (Städtisches Arbeits- und Bewahrungshaus Berlin-Lichtenberg) in Berlin. Am 12. Februar 1936 folgte von dort aus die Einweisung in die Städtische Heil- und Pflegeanstalt Herzberge, da er einen verwirrten Eindruck machte. Der aufnehmende Arzt wurde u. a. mit der Aussage des Versorgungsamts II in Berlin konfrontiert, wo er eine Rente beantragte. Man hielt ihn für einen „Rentenneurotiker und Hypochonder mit beträchtlichen seelischen Störungen“. Bei der Aufnahme machte er einen benommenen Eindruck, war affektarm, aber zeitlich und örtlich orientiert. Er gab bei der Aufnahme an seit 1904 Gelenkrheumatismus zu haben, der sich öfters wiederholte. Außerdem gab er an 1919 kurzfristig erblindet zu sein und morgens Krämpfe in den Händen zu haben. Man versuchte ihn zu beschäftigen, was er aber rigoros ablehnte. „Zeigt keine Lust zur Beschäftigung, stets untätig“, war der Standardeintrag in den Krankenakten. Er klagte immer wieder über unterschiedliche Leiden. Außerdem drängte er auf Entlassung, was aber nicht geschah. Am 28. Juni 1938 schlugen die Ärzte eine Verlegung in die Landesanstalt Teupitz im Kreis Teltow vor.

Am 11. Juli 1938 wurde er mit einem Sammeltransport dorthin verlegt. Als endgültige Diagnose ist eingetragen „Zustand n. Hirnlues“. Das deutet darauf hin, dass sich eine Syphiliserkrankung ausgebreitete hatte und Rückenmark und Hirn befiel. Bereits 1917 war er wegen Syphilis mit Salvrasan behandelt worden. Die letzte Kur fand 1931 statt. Offensichtlich offenbarte sich bei ihm eine psychische Fehlentwicklung, die sich in Herumziehen, Hypochondrie mit Regressionstendenz äußerte, alles Zeichen einer schweren psychischen Störung vom Ausmaß einer Psychose.

Die Akte endet mit der Notiz „27.6.40 überführt“. Er wurde in die Vernichtungsanstalt Brandenburg gebracht und dort getötet.
Franziska Handte lebte in Tuttlingen in der Oberamteistraße 13, als sie 1933, mit 62 Jahren, an einer Nervenkrankheit erkrankte, die sich so stark verschlechterte, dass sie 1937 in eine Heilanstalt eingewiesen wurde.

Vom 21. April 1937 bis 1. April 1938 war sie in der der Heilanstalt Zwiefalten, von wo sie in die Landesfürsorgeanstalt Reutlingen als gebessert beurlaubt wurde. Am 8. April 1939 wurde sie dann wieder in die Heilanstalt Zwiefalten eingewiesen. Von dort wurde sie nach Grafeneck überführt und am 23. August 1940 getötet.

Franziska Handte geborene Hasel wurde am 21. August 1871 in Neuweiler bei Baden-Baden als fünftes Kind eines Weingärtnerehepaars geboren. Da der Vater früh starb arbeitete sie mit der Familie in den Weinbergen und im Haushalt. Mit 18 Jahren verließ sie das Elternhaus und ging als Dienstmädchen in Stellung. Dann zog sie zu ihrer Schwester in die Schweiz und half ihr im Haushalt. In Zürich arbeitete sie zunächst als Büglerin in einem Hotel und später in einem privaten Haushalt. In Zürich lernte sie dann ihren späteren Ehemann, den Bäcker und Schirmmacher Georg Jakob Handte, kennen und heiratete ihn 1897. Aus dieser Ehe gingen sieben Kinder hervor. Ein Jahr nach der Eheschließung mussten die Handtes die Schweiz verlassen, da ihr Mann in eine Schlägerei mit tödlichem Ausgang verwickelt war.

Dann zog die Familie nach Tuttlingen und Franziska Handte verdiente ihr Geld mit Bügeln, während ihr Mann in einer Schuhfabrik arbeitete. Sodann eröffneten die beiden ein Schirmgeschäft, das aber nach drei Jahren Konkurs ging. Nach einem Umzug nach Wurmlingen kehrte die Familie 1917 nach Tuttlingen in die Oberamteistraße zurück. In dieser Zeit habe sie hauptsächlich Schirme geflickt, gab sie später an. Ihr Mann starb 1933. Danach geriet sie in Konflikt mit einer Hausbewohnerin, der sie sehr stark beschäftigte und mit Verfolgungsideen verbunden war. Im Dezember 1933 wurde sie zum ersten Mal vom Staatlichen Gesundheitsamt untersucht, aber wieder in die Obhut der Familie übergeben.

1934 war sie mit einer Brustfellentzündung im Krankenhaus in Möhringen. 1937 erfolgte die Einweisung in die Heilanstalt Zwiefalten, wo sie als freundlich und geordnet beschrieben wird. Tagesüber beschäftigte sie sich mit Näharbeiten. Am 2. April 1938 wurde sie in die Landesfürsorgeanstalt Reutlingen verbracht, da man ihren Zustand als gebessert betrachtete. Ein Jahr später (8.4.1939) wurde sie in die Heilanstalt Zwiefalten zurücküberstellt. Dort hoffte sie ständig darauf, entlassen zu werden. Immer wieder glaubte sie ihre Kinder auf dem Anstaltsgelände zu sehen, die sie abholen würden. Der letzte Eintrag auf dem Krankenblatt stammt vom 2. August 1940 und lautete „Böses, schimpfendes Weib. Körperlich zurückgegangen.“ Am 13. August 1940 holte sie ein grauer Bus ab und brachte sie nach Grafeneck, wo sie noch am gleichen Tag getötet wurde. Ihre Urne wurde nach Tuttlingen überstellt und auf dem Friedhof beigesetzt. 1959 wurde sie in das Ehrenmal für die NS-Opfer umgebettet.
Katharine Faude kam am 12. Juli 1881 in Tuttlingen als Tochter des Schreiners und Handelsmanns Jakob Faude und seiner Ehefrau Maria geb. Haller auf die Welt. Sie war das siebte von 15 Kindern, von denen allerdings acht jung starben. Die Familie lebte in der Oberen Vorstadt 11. Bereits am 1. April 1909 wurde sie – kurz nach dem Tod des Vaters (25.11.1908) – elf Tage in die Heilanstalt Zwiefalten eingewiesen. Sie wurde dort als „Käthe Faude“ registriert.


Faude Haus
Faude Haus

Als Auslöser für die Erkrankung wurde damals ein gescheiterter Heiratsplan angegeben. Die Diagnose lautete „Dementia paranoia“. Am 12. April wurde sie mit der Bemerkung „ungeheilt beurlaubt“ entlassen.

Am 15. Juni 1912 wurde dann ihre Schwester Emma ebenfalls in die Heilanstalt Zwiefalten eingeliefert. Bei ihr wurde der Tod des Vaters vor 3,5 Jahren als Ursache angegeben. Sie verließ die Anstalt gegen die ärztliche Empfehlung am 23. Dezember 1912.

Am 1. Juli 1925 wurde Katharine ebenso wie ihre Schwester Emma erneut in die Heilanstalt Zwiefalten verbracht. Vermutlich erfolgte die Einweisung nach einer Erkrankung der Mutter.
Emma starb in der Heilanstalt Zwiefalten am 13. Dezember 1934 an Magenkrebs. Katharine kam am 17. November 1938 in die Landesfürsorgeanstalt Markgröningen, da sie die Pflege einer geschlossenen Anstalt nicht mehr benötigte. Bei der Ankunft dort gab sie an, sofort wieder „heim“ zu wollen. Sie war auch über Ort und Zeit orientiert. Der aufnehmende Arzt beschreibt sie als „freundlich“. Sie redete etwas verworren und hatte Wahnideen. In Markgröningen versorgte sie sich selber, verrichtete auch kleinere Arbeiten und wurde als fleißig bezeichnet. Ihre Diagnose lautete „paranoide Schizophrenie“, ohne genaue Symptome der Krankheit zu beschreiben. Sie starb am 7. August 1940 in Grafeneck.
Neben ihrem Geburtseintrag steht der Vermerk, sie sei am 29. August 1940 in Hartheim gestorben – ein weiterer Versuch der Nationalsozialisten, das Verbrechen zu verschleiern.

Hochzeitsfoto von Pauline Dold geb. Koßmann

Das Leben der Pauline Dold begann in geordneten Verhältnissen. Sie wurde als viertes von 12 Kindern des Schlüsselwirts und Brauereibesitzers Johann Konrad Koßmann und der Maria Barbara geb. Müller am 1. September 1888 in Tuttlingen geboren. Am 24. September 1919 heiratete sie den ebenfalls aus Tuttlingen stammenden, aber in Kassel lebenden Fabrikdirektor Robert Dold, dessen Vater eine Strumpfwarenfabrik in Tuttlingen betrieb.

1921 wurde eine erste Tochter geboren, zwei Jahre später, am 30. Juli 1923, eine zweite. Nach der Geburt dieser Tochter erkrankte Pauline Dold und eine lange, wenig durchschaubare Leidenzeit begann. Nachdem die Frau in einer Kasseler Privatklinik entbunden hatte und das „Wochenbett“ gut überstanden hatte, kehrte sie in den Haushalt wieder zurück und fand sich schwer zurecht, so dass sie auf eigenen Wunsch in die Klinik zurückkehrte. Dort blieb sie zunächst zwei Wochen. Dann kam sie wieder in ihr Heim zurück, wo sich aber die Krankheit weiter verschlimmerte, so dass der Arzt zu einem längeren Aufenthalt in einer Klinik riet, womit der Ehemann auch einverstanden war.

Im April 1924 verstarb der Ehemann dann plötzlich und die Frau wurde am 11. April in die Heilanstalt Neue Mühle bei Kassel gebracht. Da der Haushalt in Kassel aufgelöst wurde und die beiden Kinder zu Verwandten nach Tuttlingen kamen, verlegte man Pauline Dold auf Bitten der Familie 1925 in die Heilanstalt Zwiefalten. Von dort korrespondierte sie mit Geschwistern und Tanten, die sich auch immer wieder nach ihr erkundigten. Ihre langen oft fahrigen Briefe belegen, dass sie jeden Bezug zur Realität verloren hatte und nicht unbeaufsichtigt leben konnte.

Am 13. August 1940 brachten die grauen Busse der SS sie in die Tötungsanstalt Grafeneck, wo sie ermordet wurde. Ihre Urne wurde im Oktober in Tuttlingen beigesetzt. Allerdings mit der Angabe, dass sie in Hartheim gestorben sei. Dies war eine gängige Praxis um eventuell auftauchende Bedenken wegen der vielen in Grafeneck Verstorbenen zu zerstreuen.
Nach Informationen des Dokumentationszentrums Grafeneck wurde Franz Gotthilf Jakob Klaiber am 27. Mai 1940 in der Gaskammer in Grafeneck getötet.

Franz Klaiber wurde am 5. Dezember 1897 in Tuttlingen als Sohn des Schuhmachers Christian Klaiber und seiner Ehefrau Anna Maria geborene Sichler geboren. Er war ein guter Schüler, nach der Schulentlassung arbeitete er in einer Schuhfabrik. 1916 wurde er in den Ersten Weltkrieg eingezogen. Es gibt verschiedene Hinweise auf seine Kriegserlebnisse, die ihn nicht mehr losließen. So soll er an Cholera erkrankt sein, außerdem bei Brimont verschüttet worden sein und als fast als einziger in seinem Unterstand mit dem Leben davon gekommen sein. Danach verbrachte er drei Wochen im Lazarett. Später geriet er in Kriegsgefangenschaft bei Vouziers, in der es im schlecht erging, so dass er einen Fluchtversuch wagte, aber erwischt wurde. Aus der Kriegsgefangenschaft kehrte er 1920 zurück.

Bald nach seiner Rückkehr lernte er seine spätere Ehefrau, Maria Emhardt aus Hundersingen, kennen. Am 13. Januar 1922 fand die Hochzeit statt, 1923 wurde das erste Kind, eine Tochter, geboren. Bis 1925 arbeitete er in der Schuhfabrik Stengele, wo er zunächst auch sehr beliebt war, am 16. Januar 1925 aber wegen Arbeitsunfähigkeit entlassen wurde.

Die Familie lebte zunächst in der Rosenstraße 6 später in der Donaustraße 9. Jetzt zeigten sich erste Krankheitssymptome, die sich vor allem in einer großen Erregung mit Zittern äußerten. Er stellte einen Antrag auf Rente und begab sich dazu in die medizinische Klinik nach Tübingen um sich ein Nervenleiden attestieren zu lassen, womit er eine Kriegsrente beantragen konnte. Er führte seinen schlechten Gesundheitszustand auf die Verschüttung während des Krieges zurück. Die Kriegsgeschehnisse beschäftigten ihn immer noch.

Am 20. Oktober 1925 wurde er erstmals in die Heilanstalt Rottenmünster eingewiesen, aus der er am 28. November des gleichen Jahres wieder entlassen wurde. Am 6. Juni 1927 folgte eine weitere Einweisung, am 22. Dezember 1927 wurde er als „gebessert“ entlassen. Inzwischen war seine Kriegsbeschädigtenrente genehmigt worden. 1929 kam ein weiteres Kind zur Welt. Aber bereits am 23. Februar 1931 wurde er von seiner Mutter wieder nach Rottenmünster gebracht. Dieses Mal wurde er aber nicht wieder entlassen, sondern am 23. März 1937 in die Heilanstalt Weissenau überführt. Von dort aus brachten ihn die grauen Busse der SS in die Tötungsanstalt in Grafeneck, wo er 1940 ermordet wurde.

Seine Urne wurde nach Tuttlingen überstellt und gleich auf dem Ehrenfriedhof beigesetzt.
Albert Ulrich wurde am 4. März 1904 als ältester Sohn des aus Talheim stammenden Holzhauers Heinrich Ulrich (1869-1955) und seiner Ehefrau Maria Agathe Biermann (1880-1944) aus Unterbaldingen geboren. Als Kind hatte er die „englische Krankheit“ durchgemacht und litt an Krämpfen. Körperlich entwickelte er sich gut, aber seine geistigen Fähigkeiten waren reduziert. Als er eingeschult werden sollte, stellte man ihn zurück, dann schlug im Januar 1912 der Rektor der katholischen Schule vor, das Kind in ein Heim zu geben, da es für den normalen Schulunterricht nicht geeignet sei.

Weil der Vater die Kosten für die Heimunterbringung nicht aufbringen konnte, übernahm die Stadt die Kosten, die sich zunächst auf 70 Pfennige Verpflegungsgeld pro Tag und auf ein Bettgeld von 12 Mark pro Jahr beliefen. Einen Teil der Kosten erstattete der Landesfürsorgeverband der Stadt Tuttlingen wieder zurück.

Die Mutter lieferte das Kind am 20. Februar 1912 in Heggbach ab. Die Pflegeanstalt Heggbach wurde seit 1887 von den barmherzigen Schwestern des Klosters Reute (Franziskanerinnen) betrieben. Etwa 260 Menschen lebten dort. Ende 1912 wurde das Kinderasyl Ingerkingen (Gemeinde Schemmerhofen) für „schwachsinnige, epileptische und blödsinnige Kinder" eröffnet, in das dann auch Albert Ulrich wechselte. Es war ein Ableger der Pflegeanstalt Heggbach und wurde ebenso wie dieses von den barmherzigen Schwestern des Klosters Reute betreut. Die Pflegeanstalt war im 25. Jahr ihres Bestehens mit 260 Pfleglingen zu groß geworden und so hatte man die Pflegeeinrichtung für Kinder an einen anderen Ort verlegt.

In Ingerkingen fanden die Schwestern ein herrschaftliches Anwesen, das dem Kloster für diesen Zweck vermacht wurde. Ausgelegt war das Kinderasyl Ingerkingen für 85 bis 90 Kinder, die von sieben Schwestern betreut wurden. Um aufgenommen zu werden, mussten die Behinderten ein ärztliches Zeugnis, eine Geburtsurkunde und ein Taufzeugnis einreichen. Die Aufgenommen waren überwiegend katholisch, einige wenige waren evangelisch oder jüdisch. Die Verpflegungskosten beliefen sich zunächst auf 50 bis 80 Pfennige für jedes Kind pro Tag. Die Kinder waren in vier Schlafzimmern untergebracht – zwei für Jungen im Erdgeschoss und zwei für Mädchen im Obergeschoss, so dass für jedes Kind 12 cbm Raum zur Verfügung stand. Auf jedem Geschoss existierte ein Krankenzimmer, in dem dann 15 cbm Raum pro Kind einkalkuliert waren. Es existierte auch eine Schule, die etwa 15 der rund 80 Kinder besuchten.

Die jährliche Statistik unterschied in Idioten, die den Großteil ausmachten, und Epileptiker. Jedes Jahr gingen etwa 15 Kinder ab, die entweder nach Hause geholt wurden oder, weil sie erwachsen waren, in die Pflegeanstalt Heggbach wechselten. Jährlich starben zwischen 4 und 10 Kinder in der Einrichtung.

Mit dem Erreichen des Erwachsenenalters kam auch Albert Ulrich in die Pflegeanstalt in Heggbach. Die Krankengeschichte ist auf einem Blatt Papier dokumentiert. Offensichtlich sprach er keine zusammenhängende Sätze, vielmehr nur Laute und Worte. Er sei nicht bösartig, springe ums Haus und arbeite nicht, heißt es in dem Krankenblatt. Man kann also davon ausgehen, dass er gehen und sprechen konnte, aber geistig behindert war. Die städtische Fürsorge zahlte dann 730 Reichsmark jährlich für seine Unterbringung im Heim. Im Jahr 1940 fielen lediglich 140 Reichsmark an. Graue Busse der SS brachten ihn im September 1940 wie 193 weitere Anstaltsinsassen nach Grafeneck, wo er ermordet wurde.

Den Umgang mit behinderten Kindern regelte ein Runderlass des Reichsministers des Innern vom 18. August 1939. Dort wurde verlangt, dass zur „Klärung wissenschaftlicher Fragen auf dem Gebiet der angeborenen Missbildung und der geistigen Unterentwicklung“ Kinder mit bestimmten Behinderungen (Idiotie, Mikroenzephalie, Hydrozephalie, Missbildung jeder Art, Lähmungen) an den Reichsausschuss zu melden seien.

Meldepflichtig waren insbesondere Hebammen und Ärzte in Entbindungsheimen. Der Reichsausschuss entschied über das weitere Schicksal der Kinder durch deren Einordnung in drei Kategorien:
  • „keine weiteren Maßnahmen“,
  • „Beobachtung“, das heißt Einweisung in psychiatrische Heil- und Pflegeanstalt – Tötung vorbehalten und
  • „Behandlung“, das heißt sofortige Tötung.
Albert Ulrich war unter die letzte Rubrik gefallen.
Gerade mal 27 Jahre alt wurde Reinhold Rall bis er im Amtsgerichtsgefängnis in Tuttlingen unter ungeklärten Umständen starb. Er kam am 6. Juli 1907 in Tuttlingen als Sohn des Schuhfabrikarbeiters Johannes Rall und dessen Ehefrau Pauline geb. Pfrommer zur Welt.

Er wurde in eine große Familie hinein geboren, die in ihrer Gesinnung der KPD nahe stand. Den Eltern wurde zu ihrer goldenen Hochzeit 1939 eine Ehrung verwehrt, da sie politisch nicht opportun waren. Ebenso erhielt die Mutter kein Mutterkreuz verliehen. Reinhold lernte den Beruf des Instrumentenmachers. Er und weitere Brüder waren in der KPD organisiert, sein Bruder Paul Rall ging nach dem Tod von Reinhold nach Spanien zu den Internationalen Brigaden und fiel im Bürgerkrieg. Eine Schwester war mit Hermann Müller verheiratet, der auch im Widerstand aktiv war. Die beiden wurden später bezichtigt ausländische Sender gehört zu haben.

Bis 1930 lebte Reinhold bei seinen Eltern Im Haken 2 und dann wieder ab 29. August 1931. Einer seiner Brüder wandte sich der NSDAP zu und wurde SA Mitglied. Zeitzeugen berichten, dass dieser Bruder die anderen denunzierte habe und es zu einer Hausdurchsuchung kam, in deren Folge Reinhold Rall ins Amtsgerichtsgefängnis eingeliefert wurde. Allerdings konnte dieser Bruder bei seiner Entnazifizierung glaubhaft versichern, dass er mit Reinhold wenig Kontakt hatte und er erst Jahre nach dessen Tod in die NSDAP eingetreten war. Aber natürlich war er eines andern Geistes Kind und meinte, dass sein Bruder „wegen ein paar Flugblättern sein Leben weggeworfen hatte“. Er berichtete, dass 1934 zwei seiner Brüder, Reinhold und Alfred, wegen des Besitzes kommunistischer Schriften verhaftet worden seien. Bei der Befragung hätte Alfred angegeben, dass er die Schriften, die bei ihm gefunden worden waren, von seinem Bruder Reinhold erhalten habe. Alfred fühlte sich deshalb schuldig am Tode des Reinhold Rall. Reinhold beschrieb er als fleißig und sparsam, aber andererseits auch als hitzig.

Emil Rieger gab in seinen Wiedergutmachungsunterlagen an, dass in diesen Jahren „über Tuttlingen ein dauernder Transport von antifaschistischer Literatur ging“. Deshalb seien 1934 verschiedene Personen verhaftet worden.

In der Nacht vom 5. auf den 6. August 1934 starb Reinhold Rall in seiner Gefängniszelle im Amtsgerichtsgefängnis. Über seine Todesursachen gibt es viele Spekulationen. Der Amtsrichter Hirzel meldete dem Standesamt, dass Rall morgens tot aufgefunden worden sei und Freitod durch Erhängen begangen hätte. Mitgefangene und Parteigenossen waren aber immer der Ansicht, dass Reinhold Rall nicht freiwillig aus dem Leben geschieden war. Besonders Mitgefangene, die auf der gleichen Etage untergebracht waren, hatten Geräusche gehört, die diese zur Überzeugung brachten, dass Reinhold Rall getötet wurde.

Der Gefängniswärter des Amtsgerichtsgefängnisses, Eugen Stooss, war dafür bekannt, dass er die Häftlinge plagte und schikanierte. Er wurde 1948 in den Rastatter Prozessen zu 20 Jahren Gefängnis verurteilt. In der Verhandlung wurden auch Verletzungen diskutiert, die er einem Franzosen beigebracht hatte. Dabei wurde vermerkt, dass ein Verdunkelungsrollo heruntergerissen worden sei. War auch dies der Versuch eine Person zu erhängen?

Ein Mithäftling, Eugen Huber, der im Gefängnis so einiges mitbekam, wurde am nächsten Tag in ein Gefängnis nach Rottweil verlegt. Ein anderes Mitglied der Widerstandgruppe, Willi Rominger, saß später im Gefängnis in Oberndorf und wurde dort zum Tod von Reinhold Rall verhört, da man wohl vermutete, dass er etwas wusste. Letztendlich wird die Todesursache nicht endgültig zu klären sein.

Emil Rieger hielt auch die Grabrede und bezeichnete ihn als politischen Freund. Er führte in der Trauerrede aus, „dass wir im Geiste des Verstorbenen weiter leben und kämpfen wollen.“ Wenige Tage danach wurde auch Emil Rieger verhaftet.
Der Zwangsarbeiter Anoni Midinski starb am 28. Februar 1943 im Tuttlinger Amtsgerichtsgefängnis nach Schlägen, die ihm der Gefängniswärter Eugen Stooss beigebracht hatte. Als Todesursache meldete der Amtsgerichtsdirektor Karl Hirzel, der für das Gefängnis verantwortlich war, an das Standesamt einen Sturz auf einen Ofen und damit wurde der Fall zunächst zu den Akten gelegt.

Anoni Midinski war einer von etwa 2,75 Millionen Zivilpersonen, die aus der Sowjetunion zur Arbeit nach Deutschland verschleppt worden waren. Er stammte aus der Westukraine, genauer gesagt aus Werbowics aus dem Kreis Kur-Kurilovci aus dem Gebiet Kamenz-Podolski. Er wurde am 13. Juli 1898 dort geboren und war verheiratet, als er deportiert wurde.

In Tuttlingen arbeitete er nachweislich bis Ende 1942 in der Zimmerei Häberlen, wo er dann beschäftigt war, ist unbekannt. Er lebte im Lager Mühlau. In das Gefängnis eingeliefert wurde er Ende Februar 1943 wegen angeblicher Arbeitsverweigerung. Dort traf er auf den Gefängniswärter Eugen Stooss, der für seinen rüden Umgang mit Häftlingen bekannt war.

Diese Gefängniswärter wurde am 22. Oktober 1948 von Obersten Französischen Militärgericht im Rahmen der Rastatter Prozesse unter Vorsitz von Richter Gustave Levy wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu 20 Jahren Zuchthausstrafe verurteilt, die er im Gefängnis von Wittlich absaß. Hauptanklagepunkte waren die Ereignisse um den Tod des Anoni Midinski. Von der Gesamtstrafe verbüßte Stooss acht Jahre und wurde dann entlassen. In der Verhandlung wurden die Vorgänge um den Tod des Anoni Midinski noch einmal aufgerollt und zahlreiche Zeugen verhört.

Albert Häring, ein zu dieser Zeit inhaftierter Friseur, sagte aus, dass Eugen Stooss ihn an einem Vormittag aus seiner Zelle geholt und in die Zelle von Anoni Midinski gebrachte habe mit der Anordnung diesen auf sein Pritsche zu legen. Er forderte einen weiteren Mann zur Unterstützung an und der Mitgefangene Karl Schutzbach wurde herbeizitiert. Beide legten den schwerverletzten Midinski auf das Bett. Dabei bemerkten sie, dass er eine große Kopfwunde hatte und sehr verlaust war. Die Gefängnisschwester, Frau Benzing, legte einen Kopfverband an. Abends, als er ihm Kaffee bringen sollte, bemerkte Häring schon, dass es dem Zwangsarbeiter sehr schlecht ging und die Gefahr bestand, dass er sterben könnte, was er an Stooss weitermeldete. Am kommenden Nachmittag, es war ein Mittwoch, starb Anoni Midinski dann.

Karl Schutzbach, der ebenfalls im Gefängnis einsaß und Häring beim Anheben von Anoni Midinski behilflich war, meinte, dass sie gehört hatten, wie Stooss mit seinem Schlüsselbund auf den Russen einschlug. Er hatte eine Wunde am Hinterkopf von 5 cm Durchmessern von der Attacke davongetragen.

Andere Häftlinge bestätigten, dass Stoos vor allem die ausländischen Häftlinge mit einem Schlüsselbund schlug, ihnen öfters nichts zum Essen gab und ihre Lebensmittelscheine behielt.

Am Tag, an dem Anoni Midinski starb, hatte Gefängniswärter Stooss seinen freien Tag und Karl Speck vertrat ihn. Er traf den Gefangenen Midinski bewusstlos an und Blut floss aus einem Ohr und einem Nasenloch. Er verständigte Eugen Stooss, rief einen Arzt und die Polizei an, da der Gefangene Polizeigefangener war. Bevor jemand kam, verstarb Anoni Midinski gegen 16 Uhr in seiner Zelle.

Nach Kriegsende veranlasste u. a. der neue Polizeichef Eugen Rosenfeldt die Verhaftung von Eugen Stooss, der sich dann vor Gericht verantworten musste. Stooss bestritt die Tat und meinte, der Zwangsarbeiter sei gefallen. Zahlreiche Mithäftlinge aber bezeugten sein brutales Vorgehen gegen Ausländer im Allgemeinen und gegen Anoni Midinski im Speziellen.
Als Julius und Elise Fröhlich 1956 ihre Wiedereinbürgerung beim Landratsamt Tuttlingen beantragten, konstatierte man, dass das Ehepaar bis 1938 in Tuttlingen gelebt habe und gut beleumundet sei. 1938 hatten sie mit ihren vier Kindern Tuttlingen verlassen, um im britischen Mandatsgebiet Palästina eine neue Heimat zu suchen, da sie die zunehmende Entrechtung unter der NS-Diktatur bemerkten und Schlimmeres fürchteten. 1941 war der Familie die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt worden, da sie jüdischen Glaubens war. 1956 konnte zumindest dieses Unrecht revidiert werden.

Die Kinder der Familie Fröhlich
Die Kinder der Familie Fröhlich vor dem Haus Nendinger Allee 9 mit Nachbarskindern

Julius Fröhlich wurde am 17. Januar 1896 in Rexingen als Sohn von Max und Auguste Fröhlich in eine Familie geboren, deren Ahnen sich spätestens 1730 in Rexingen niedergelassen hatten. Er besuchte die Schule in Rexingen, anschließend die Mittelschule in Horb und machte eine Ausbildung zum Viehhändler.

1915 wurde er in das X. Württembergische Ersatz-Battallion Infanterie Regiment Nr. 180 für den Ersten Weltkrieg rekrutiert, in welchem er in der Somme-Schlacht schwer verwundet wurde. Er erhielt das Eiserne Kreuz II. Klasse, dem am 2. Dezember 1934 das Ehrenkreuz für Frontkämpfer folgte. Er sprach schwäbisch war überzeugter Württemberger, kannte sich in Geschichte und Bräuchen aus, liebte die Musik, war politisch interessiert, gehörte dem Reichsbund jüdischer Frontkämpfer an und unterstützte den Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold, der sich den Schutz der Weimarer Verfassung auf die Fahnen geschrieben hatte und der mit der Machergreifung Hitlers verboten wurde.

Da es in Rexingen zahlreiche Viehhändler gab, sah er sich nach einem neuen Wirkungskreis um und fand ihn in Tuttlingen. Zu Beginn des Jahres 1922 ließ er sich hier nieder und meldete am 12. Oktober 1925 seinen Viehhandel in Tuttlingen an. Auf einer Hochzeitsfeier in Gailingen lernte er Elise Leibischu aus Zürich kennen und heiratete sie 1925. Sie entstammte einer sephardischen Familie, die eigentlich in Saloniki ansässig war. Ihre Eltern waren Ende des 19. Jahrhunderts – ihre Mutter aus Polen, ihr Vater aus Rumänien – in die Schweiz umgesiedelt und betrieben ein Manufakturgeschäft.

Viehhändler Fröhlich
Viehhändler Julius Fröhlich in Tuttlingen

In Tuttlingen wohnte Familie Fröhlich zunächst zur Miete bei den Brüdern Storz in der Hermannstraße 14/II und 1930 bezog sie ihren Neubau in der Dammstraße (heute Nendinger Allee 9). Dort gab es auch einen großen Stall, den der Viehhändler als Zwischenstation für die Tiere nutzte.

Julius Fröhlich kaufte zunächst Vieh aus der Umgebung, später auch aus Niederbayern auf und schaffte es in den Norden Deutschlands, wo es auf Auktionen verkauft wurde. Am Bahnhof gab es eine eigene Rampe zum Verladen des Viehs. Das Geschäft florierte. Seine Frau unterstützte ihn bei der Buchhaltung, sobald er auf Geschäftsreisen war.

Zwischen 1926 und 1932 wurden vier Kinder geboren: zwei Söhne und zwei Töchter.

1926 kamen die Tochter Sonja, 1927 der Sohn Helmut, 1930 der Sohn Walter und 1932 die Tochter Eleonore zur Welt. Die Kinder besuchten hier die Schule. Sie waren mit der Familie der Klavierlehrerin Johanna Maier befreundet, die in der Nachbarschaft wohnte. Johanna Maier gab einigen Kindern der Familie Fröhlich Klavierunterricht. Dort durften die Kinder auch mal nicht koschere Blutwurst essen oder im Gegenzug gab es Matzen für christliche Kinder.

Frau Fröhlich schilderte 1983 in einem Interview die Situation in Tuttlingen wie folgt: „Die Tuttlinger sind im Großen und Ganzen anständig gewesen.“. Ihre Kinder gingen in die „Schule in der Nähe des Schlachthaussteges“. Die beiden Söhne besuchten die Horst-Wessel-Schule und waren zuvor in einem christlichen Kindergarten gewesen. Die älteste Tochter Sonja ging in dieselbe Klasse wie die Tochter des Kreisleiters Huber. Ihre Tochter habe nie darunter gelitten, dem mosaischen Glauben anzugehören. Der Tochter des Kreisleiters wäre es arg gewesen, wenn sie von den Beeinträchtigungen der Klassenkameradin gewusst hätte, meint Frau Fröhlich. Sie führt diese Situation als Beispiel dafür an, wie wenig fanatisch sie die Tuttlinger Bevölkerung erlebte. Auch die früheren Schulkameradinnen von Edith Kälbermann konnten sich erinnern, dass die Kreisleiter-Tochter häufig mit Sonja Fröhlich gemeinsam zur Schule ging.

Frau Fröhlich berichtete, dass es in der Schule einen Hauswart gab, der ein besonderes Auge auf die Kinder geworfen hatte und aufpasste, dass den Kindern nichts passierte. Es sei ein sehr netter, hochanständiger Mann gewesen. Die Vorsicht war notwendig, weil ein Lehrer seine Parteizugehörigkeit durch das Tragen einer Parteiuniform besonders unterstrich und durch antisemitische Äußerungen im Unterricht aufgefallen war, bestätigt Amos Walter Fröhlich in einer E-Mail.

Familie Fröhlich
Die Familie Fröhlich im Jahre 1938

Von Schul- und Klassenkameradinnen wird berichtet, dass die jüdischen Kinder ebenso behandelt worden seien wie die christlichen. Sie wurden genauso wie die anderen gehänselt. Die Zugehörigkeit zum jüdischen Glauben spielte für die Gleichaltrigen keine Rolle.

Die Familie hatte eine Haushaltshilfe, Frida Sichler, und Helfer beim Viehhandel. Sie fühlten sich wohl in Tuttlingen.

Nachdem die Nationalsozialisten an die Macht kamen und sofort die Unterdrückung, Entrechtung und Ächtung der jüdischen Mitbürger einsetzte, meinte die Familie zunächst die Situation aussitzen zu können. Der Viehhandel wuchs weiterhin ständig. Zwar gab es auch am 1. April 1933 eine Anzeige in der Zeitung, die zum Boykott jüdischer Geschäfte aufrief, Julius Fröhlich aber fühlte sich wenig beeinträchtigt. Die Familie passte sich an und bot wenig Konfrontationsfläche, da sie ihren Glauben nicht streng praktizierten. Julius Lebenseinstellung war von der Assimilation geprägt. Der Haushalt wurde "neu-koscher" geführt. Obwohl sie eigentlich zur jüdischen Gemeinde in Rottweil-Mühringen zählten, besuchten sie gelegentlich die Synagoge in Rexingen, wo die übrige Familie wohnte.

Obwohl sich die Familie in Tuttlingen wohl fühlte, las Julius Fröhlich aufmerksam Zeitung und war über die zunehmenden Ausschreitungen und die Entrechtung der Juden besorgt. Als eine Gruppe aus Rexingen die Auswanderung nach Palästina in Betracht zog, schloss er sich an. Mit einigen anderen Rexingern reiste er 1937 dorthin, wo ihnen ein kahles, 60 ha großes Stück Land nördlich von Haifa vom jüdischen Nationalfonds zugewiesen wurde, das sie Shavei Zion, Heimkehr nach Zion, nannten. Zurückgekehrt nach Deutschland, wurden die Vorkehrungen für eine Auswanderung getroffen. Container, so genannte Lifts, bestellt, gepackt und versandt. Am 7. September 1938 verließ die Familie nach Zahlung einer hohen Reichsfluchtsteuer Deutschland und machte sich zu einem großen Abenteuer, nämlich der Urbarmachung eines fremden Landes, auf. Als die Familie auswanderte, waren die Kinder zwischen 6 und 12 Jahre alt. Die Mutter, die Schwägerin und der Bruder von Julius Fröhlich konnten nicht entkommen und starben in Konzentrationslagern.

In Palästina musste sich Julius Fröhlich wie alle Siedler auf ein völlig neues Leben umstellen. Die Genossenschaft schickte ihn gleich nach seiner Ankunft für ein halbes Jahr in den Kibbuz Sarid. Aus dem Kreis derer, die sie in späteren Jahren in Israel besuchten, wird berichtet, dass die Eingewöhnung den Erwachsenen schwer gefallen sei. Besonders die hebräische Sprache bereitete Schwierigkeiten. Die Kinder hingegen gewöhnten sich leicht ein. Trotz aller Freude an der neuen Aufgabe waren die körperliche Arbeit und das ungewohnte Klima sehr anstrengend für Julius. Er begann mit der Arbeit bereits am frühen Morgen um 3 Uhr, kam zwischen 6 und 7 Uhr nach Hause und ging um 9 Uhr wieder zur Arbeit. Nach der Mittagspause war er von 15 bis 19 Uhr nochmals im Kuhstall. In den Nächten konnte er kaum schlafen und fühlte sich bald krank. 1944 erlitt Julius Fröhlich einen ersten, 1948 nach dem tragischen Tod der Tochter Sonja Linwer im Unabhängigkeitskrieg einen zweiten Herzinfarkt.

Elise Fröhlich arbeitete wie die anderen Frauen zunächst in der Landwirtschaft, später vor allem im Einkaufsladen. An das Gemeinschaftsleben konnten sich Julius und Elise Fröhlich kaum gewöhnen und fühlten sich durch das engstirnige Denken oft verletzt. In den Kriegsjahren dachte der Familienvater zeitweise darüber nach, die Siedlung zu verlassen und sich mit einer eigenen Farm bei Kirjat Bialik selbständig zu machen. Letztlich war ihm das Risiko aber doch zu groß.

Ab 1957 kehrten Julius und Elise in den Sommermonaten regelmäßig nach Tuttlingen zurück. „Er sehnte sich nach Deutschland zurück, er sehnte sich nach der Landschaft und er sehnte sich nach den Wäldern und er hat sich nirgends so wohl gefühlt wie hier“, erinnert sich sein Sohn Amos. Bei einem dieser Aufenthalte starb Julius Fröhlich 1963 mit 67 Jahren in Tuttlingen.

Elise Fröhlich erreichte das hohe Alter von 95 Jahren und starb 2000 in Shavei Zion. Trotz aller schrecklichen Erfahrungen blieben die Fröhlichs mit dem Herzen in Tuttlingen.

Der Sohn Walter, der in Israel Amos genannt wurde, studierte später in München Tiermedizin. Er und seien Frau Gila, die er die Deutschland kennen und lieben lernte, besuchen Deutschland regelmäßig. Er erhielt im Jahre 2015 für seine völkerverständigende Aktivitäten aus den Händen von Tuttlingens Oberbürgermeister Michael Beck das Bundesverdienstkreuz.
 
Lit.:
Uri R. Kaufmann und Carsten Kohlmann im Auftrag des Gedenkstättenverbundes Gäu-Neckar-Alb: Jüdische Viehhändler zwischen Schwarzwald und Schwäbischer Alb, Barbara Staudacher Verlag, Horb, 2007
Und einer flog über das Kuckucksnest …

Hermann Steck

Ferdinand Hermann Steck wurde am 9. Oktober 1900 als Sohn des Schuhmachermeisters Ferdinand Heinrich Steck und dessen Ehefrau Rosina geb. Schmid geboren. Der Vater stammte aus Reutlingen, die Mutter aus Tuttlingen. Das Ehepaar hatte elf Kinder, von denen drei jung starben. Hermann war das fünfte Kind. Er ging in Tuttlingen zur Schule, war ein guter Schüler, wurde konfirmiert, besuchte die Fortbildungsschule, machte eine Ausbildung zum Schuhmacher bei der Firma Neipp und Faul. Er wurde gegen Ende des Ersten Weltkriegs gemustert, für tauglich befunden und eingezogen in das Ersatzbataillon des Infanterieregiments 127, das in Wiblingen bei Ulm stationiert war. Dort holte er sich eine Rippenfellentzündung. Das Militär sage ihm zu und so war er von 1919 bis 1922 beim Grenzschutz der Reichswehr. Sein Vater besaß eine kleinere Schuhfabrikation in der Gartenstraße 12 und holte den gelernten Schuhmacher in seinen Betrieb zurück. Die beiden kamen nicht miteinander aus und so wechselte er in eine andere Schuhfabrik.

1928 versuchte er zum zweiten Mal eine andere berufliche Laufbahn einzuschlagen. Er machte den Führerschein und hoffte in der aufstrebenden Automobilbranche unterzukommen, was ihm aber nicht glückte. So war er weiterhin als Schumacher, als Zwicker (Handvorzwicker so genannter Überholer) tätig (Akkordarbeit) und oft mit Aceton in Kontakt. 1930 ereignete sich ein Unfall, als sich ein Treibriemen löste und ihm zusammen mit einem großen Bleischloss auf den Kopf fiel. Er arbeitete zwar weiter, aber der Fabrikbesitzer (Christian Lutz) schickte ihn nach Hause. Er hatte zwar keine äußerliche Wunde, hatte aber das Gefühl „es habe innen geblutet“. Er erlitt einen Nervenschock, war übermüdet und appetitlos. Nach diesem Ereignis und der daraus resultierenden Krankheit war er ein halbes Jahr in Behandlung und nicht mehr derselbe wie zuvor. Seine Leistung ging zurück und er wurde Anfang Juli 1931 entlassen. Vor allem hatte er oft das Gefühl in der Wohnung würde Gas ausströmen oder es sei stickige Luft in dem Raum. Er führte diese Misswahrnehmung auf das Einatmen des Acetons zurück, darauf, dass seine Schleimhäute verätzt seien. Das Fehlen von sensorischen Wahrnehmungen der Atemorgane aufgrund des unsachgemäß gehandhabten Acetons war weit verbreitet bei den Schuhmachern. Steck trank auf Anraten des Arztes Kamillentee mit Pfefferminz, Blutan und Lebertran, versuchte das körperliche Gleichgewicht durch Gymnastik, kalte Abwaschungen und vieles mehr zu erlangen. Immer öfter zog es ihn ins Freie, oft auch nachts.

Am 27. April 1928 hatte er Hermine Rieger geheiratet, die er seit 1922 kannte und mit der er seit dem 24. Dezember 1923 verlobt war. Sie zogen in die Möhringer Straße 21. Er war Mitglied der Siedlungskolonie und sparte auf ein Eigenheim. Nach dem Unfall änderte sich sein Leben und seine Frau kam immer schwerer mit ihm zurecht. Sie zogen kurzzeitig nach Wurmlingen, wo ihn seine Frau vorübergehend verließ und zu ihren Eltern zurückkehrte. Nach Tuttlingen in die Ludwigstaler Straße 11 zogen sie im Januar 1932. Nach einer Attacke gegen seine Frau ließen seine Schwiegereltern ihn am 9. März 1932 zum Arzt bringen, der ihn ins Kreiskrankenhaus einwies. Von dort aus wurde er am 15. März 1932 in die Heilanstalt Zwiefalten gebracht, wo er auch blieb. Dort wird er als selbstbewusst, wortgewandt und schlagfertig beschrieben, der während des gesamten Aufenthalts auf Entlassung drängte. Die Ehe wurde 1934 geschieden, was er schwer verkraftete. Ab Juni 1937 wurde er in der Landwirtschaft eingesetzt. Das Heuabladen nutze er am 23. Juni 1937 und entwich. Allerdings wurde er zwei Tage später wieder aufgegriffen und zurückgebracht. Die Flucht ereignete sich ein Tag nachdem man bei ihm eine neue Behandlungsmethode angewandt hatte. Mit einer Cardiazol-Kur, deren Kosten das Kreisfürsorgeamt übernahm, versuchte man ihn zu kurieren. Cardiazol ist ein Analeptikum, das 1934 für psychische Erkrankungen eingeführt wurde. Mit ihm wurde ein Schockzustand hergestellt. Über drei Monate erhielt er Injektionen, die einen Anfall provozierten. Cardiazol-Kuren waren Vorläufer von Psychopharmaka-Therapien. Nichts half.

Am 13. November 1940 wurde er nach Grafeneck gebracht und getötet. Seine Urne wurde, da sie in Tuttlingen von niemandem angefordert wurde, dem Krematorium in Schwenningen überstellt und dort beigesetzt. Nach Ende der NS-Diktatur wurde sie dort auf dem Ehrenhain beigesetzt.
Familie Kälbermann
„Wenn wir mehr geahnt hätten, wären wir früher gegangen“, sagte die Tuttlinger Jüdin Elise Fröhlich in einem Interview in den 1950er Jahren. Ähnlich hätte wohl auch Isidor Kälbermann geantwortet, wenn man ihn nach dem Krieg befragt hätte. Er musste in den fernen USA schmerzlich die Ermordung seiner Frau, seiner Tochter und seiner Schwiegereltern verkraften. Im Frühjahr 1939 hatte er alleine Tuttlingen verlassen, um über England in die USA zu emigrieren. Seine Familie wollte er nachholen. Dazu kam es aber nicht mehr. Wer aber war die Familie Kälbermann?

Die Brüder Isidor und Ludwig Kälbermann wurden in Großeicholzheim (Neckar-Odenwald-Kreis) als Söhne des Vieh- und Schuhhändlers Max Kälbermann und dessen Ehefrau Amalie geb. Heimann im Jahre 1899 und 1901 geboren. 1922 zogen die Brüder nach Tuttlingen und erwarben schon bald das Gebäude Hermannstraße 23, das zuvor dem Schuhfabrikanten Johannes Martin gehört hatte, und begründeten darin eine Schuhfabrik sowie einen Großhandel mit Leder und Schuhwaren. Die Schuhfabrikation wurde schon bald aufgegeben, der Handel aber weiter betrieben. 1932 trennten sich die Brüder und jeder meldete für sich einen Großhandel an – Isidor für Leder- und Schuhwaren, Ludwig nur für Schuhwaren.

Isidor, Else und Edith Kälbermann
Der ältere Bruder Isidor heiratete 1930 die 1907 in Mainz geborene und in Großgerau ansässige Else Blatt, die als auffallend gut aussehende Frau geschildert wird. Sie war die Tochter des Kaufmanns und Weinhändlers Siegfried Blatt und dessen Ehefrau Rosalie. 1932 gebar Else ihre gemeinsame Tochter Edith. Die Welt der Kälbermanns veränderte sich mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten. Bereits am 1. April 1933 wurde ein Boykottaufruf für jüdische Geschäfte veröffentlicht, den besonders Isidor Kälbermanns Schwiegereltern Siegfried und Rosalie Blatt zu spüren bekamen. Ihr Wein- und Spirituosengeschäft in Großgerau wurde geplündert und zerstört. Die Kälbermanns begannen sich um 1937 auch für Auswanderungsmöglichkeiten zu interessieren. Es wird kolportiert, dass Isidor Kälbermann mit dem Rexinger Erkundungstrupp, dem auch Julius Fröhlich beitrat, nach Palästina reiste, sich aber nicht dazu durchringen konnte, sich auf dem kahlen Stück Land niederzulassen.

Edith Kälbermann im Kindergarten
Foto einer Kindergartenklasse, auf dem die ermordete Edith Kälbermann zu sehen ist.

Isidor zögerte offensichtlich nach der Palästina-Erfahrung weitere Auswanderungspläne ins Auge zu fassen. Bis Oktober 1938 führte er sein Geschäft, dann meldete er es ab. Als er bei der so genannten "Judenaktion“, der Reichskristallnacht, am 9. November 1938, in Schutzhaft genommen wurde, spürte er sicher, dass Handeln dringend notwendig war. Zwar wurde er als Kriegsteilnehmer des Ersten Weltkriegs Anfang Dezember wieder entlassen, die Bedrohung blieb aber. Gleichzeitig wurde es immer schwerer Deutschland zu verlassen. Kurz vor Kriegsausbruch meldete er sich in Tuttlingen ab, um das Terrain in England oder USA zu sondieren.

Zwei Mal taucht er in Passagierlisten Richtung USA auf. 1939 reiste er nach London, erhielt dort am 26.3.1940 ein Einreisevisum in die USA ausgestellt und segelte dann mit der Scythia von Liverpool nach New York. 1953 als er offensichtlich noch einmal zurückgekehrt war, um das Schicksal seiner Familie zu klären, setzte er von Le Havre nach New York über. Als Wohnort wurde zunächst New Haven im Staat Connecticut angegeben. Als er 1947 eingebürgert wurde, lebte er noch dort. Später wird ein Wohnsitz in New Rochelle im US-Bundesstaat New York genannt.

Seine Familie, die er 1939 zurück gelassen hatte, sah er nie wieder. Bereits im Mai 1939 zog seine Tochter Edith nach Stuttgart (zunächst in die Uhlandstraße 25 zur Familie Schloss), da ihr in Tuttlingen der Schulbesuch verwehrt wurde. Später folgte ihr ihre Mutter nach. Beide lebten dann in der Wannenstraße 16. Vor diesem Haus liegen die Stolpersteine für den Rechtsanwalt Dr. Robert Mainzer und seiner Frau Helene. Eine Freundin von Else Kälbermann, Kathie Haas[i], schilderte in einem Brief die Verhältnisse in der Stuttgarter Wohnung. Es gab ein Schlafzimmer und eine Küche, die bei ihrem Einzug in die Wohnung erst hergerichtet wurde. Einige Dinge brachte sie von ihrer 7-Zimmer-Wohnung in Tuttlingen mit, andere, wie der Herd, wurden dazu gekauft. Das 12-teilige Silberbesteck hatte sie abgeben müssen. Die Küche ließ sie eingerichtet zurück, als sie deportiert wurde, damit die später hier Einziehenden gleich Möglichkeiten zum Kochen vorfinden würden, sagte sie zu ihrer Freundin Kathie. Diese schilderte 14 Jahre später, dass Else „furchtbare Angst vor der Gestapo“ gehabt habe. Wäsche von sechs Wochen, die sie in eine Waschanstalt gegeben hatte, holte sie aus Furcht nicht mehr ab. Ihr Vater, Siegfried Blatt, war von Tuttlingen nach Stuttgart gekommen und hatte einige Pakete mitgenommen, als sie erfahren hatte, dass sie in ein Lager kommen sollte. Drei Koffer hatten Else und Edith gepackt und mitgenommen, als sie die Mitteilung erhielten, dass sie und ihre Tochter sich auf dem Nordbahnhof in Stuttgart einfinden sollten. Man hatte ihnen gesagt, dass sie in ein Lager kämen. Die Koffer wurden ihnen gleich am Bahnhof abgenommen. Goldstücke hatte sie in die Kleidung genäht. „Man klammert sich am Schluss an Alles, doch hat es nichts geholfen.“, kommentierte Isidor Kälbermann 1954 das Geschehen in einem Brief[ii]. Furchtbare Szenen hätten sich dann dort abgespielt, berichtete die Freundin Kathie.

Else und Edith Kälbermann waren in dem ersten Deportationszug, der am 1. Dezember 1941 den Stuttgarter Nordbahnhof verließ und Riga zum Ziel hatte. Ein anderer Deportierter, Heinrich Rosenrauch,[iii] erklärte ebenso wie Selma Weil und Harry Kahn, dass Else und Edith am 26. März 1942 mit 1700 weiteren Personen vom Lager Riga-Jungfernhof abtransportiert und in den Hochwald bei Riga gebracht wurden, wo sie erschossen wurden. Das Amtsgericht Stuttgart erklärte die beiden dann 1950 für tot.

Isidor Kalbermann, wie er sich in Amerika nannte, versuchte nach dem Krieg den Verbleib seiner Frau zu klären, nahm Kontakt mit Kathie Hahn auf und stellte Wiedergutmachungsforderungen. Dabei entwarf er das Bild eines wohl geordneten Hausstandes mit Vermögen. Zusehends war die Familie enteignet worden, hatte Schmuck und Silberbesteck in der Pfandleihanstalt in Stuttgart abgeben müssen. Die wertvollen Möbel waren zurückgelassen worden und verschwunden. Das Konto der Familie bei der Deutschen Bank in Stuttgart war bereits am 14. Januar 1942 von dem Oberfinanzpräsidenten Württembergs eingezogen worden.
 
Ludwig, Dina und Werner Kälbermann
Der jüngere Bruder Ludwig heiratete die 1906 in Vacha im Kreis Eisenach geborene Dina Schoen. 1933 kam der gemeinsame Sohn Werner auf die Welt.

Die Familie des Bruders Ludwig liquidierte im März 1938 das Geschäft und verließ im April Tuttlingen mit dem Ziel USA. In den Passagierlisten findet sich ein Eintrag auf der President Harding für Ludwig, Dina und Werner Kälbermann. Ihr Ziel war der Ort Mount Vernon im Staat New York. Ludwig Kälbermann starb 1954 in Amerika.

Siegfried und Rosalie Blatt
Ebenfalls umgebracht wurden die Eltern von Else: Siegfried und Rosalie Blatt.
Der Weinhändler war am 19. April 1875 in Jungenheim im Kreis Bingen geboren worden. Er heiratete die aus Wallerstädten im Kreis Großgerau stammende Rosalie Hirsch, die am 14. Juni 1882 dort geboren worden war. Sie gründeten gemeinsam eine florierende Weinhandlung und hatten zwei Kinder – Else und Paul. Der deutliche Druck auf die jüdische Einwohnerschaft in Groß-Gerau veranlasste sie 1937 zu ihrer Tochter Else nach Tuttlingen zu ziehen. Sie wohnten mit ihnen im Gebäude Hermannstraße 23. Ihr eigenes repräsentatives Gebäude in Groß-Gerau mussten sie verkaufen, erhielten aber lediglich einen Bruchteil des vereinbarten Geldes nach Tuttlingen überwiesen. Auch ihr Sohn Paul lebte 1934 ein halbes Jahr in Tuttlingen, emigrierte dann aber nach Frankreich, wo er interniert wurde, aber fliehen konnte. Er lebte nach dem Krieg in Perpignan und vertrat von dort aus die Rückerstattungsansprüche seiner Familie.

Siegfried und Rosalie Blatt lebten noch bis August 1942 in dem Haus in der Hermannstraße 23. Sie mussten an das Polizeiamt in Tuttlingen eine Schreibmaschine der Marke Adler, ein Blaupunkt-Radio und ein Wanderer-Damenfahrrad abliefern, das Polizeiinspektor Theodor Held abholte. Die drei Gegenstände hatten einen Wert von 1.350 Reichsmark. In ihrer Meldekartei steht der Vermerk, dass sie nach Baisingen verzogen sind. Dort wurde nach ihrer Deportation ihr zurückgelassener Hausstand versteigert und Bargeld beschlagnahmt. Alles zusammen hatte einen Gesamtwert von 9.956,36 Reichsmark. Hinzu kam Schmuck, der in die Pfandleihanstalt in Stuttgart gegeben worden war und Lebensversicherungen, die ohne Entgelt abgeliefert worden waren.

Jedenfalls wurden sie über das Sammellager in Stuttgart mit dem Transport XIII, 1 ab dem Stuttgart Hauptbahnhof verschleppt und trafen am 23. August 1942 im KZ Theresienstadt ein, um von dort weiter ins KZ Treblinka gebracht zu werden. Am 10. Oktober 1942 wurde Siegfried in Treblinka oder Minsk ermordet. Genauso erging es seiner Frau: Auch sie wurde über das KZ Theresienstadt in das KZ Treblinka verschleppt und ist in Minsk verschollen. Am 15. September 1946 wurde sie für tot erklärt.

Literatur:
[i] ST A LB Fl 300 /31 I Bü 14704
[ii] ST A LB Fl 300 /31 I Bü 14704
[iii] ST A LB Fl 300 /31 Iii Bü 1821
Oskar Heuberger wurde am 23. Juni 1902 als Sohn des Schuhmachers Johann Jakob Heuberger und dessen Ehefrau Marie geb. Bauer geboren. Seine Eltern stammten aus dem Badischen, der Vater starb bereits 1912, als er gerade 10 Jahre alt war. Er hatte noch eine ältere Schwester und einen jüngeren Bruder. Die Familie lebte zunächst in der Schulstraße und ab 1930 im Brechgässle, heute Flachsweg 2.

Oskar Heuberger

Durch eine Kinderlähmung hatte Oskar eine Behinderung am Bein (Klumpfuß). Nach dem Besuch der Volksschule arbeite er in der Schuhfabrik Rieker, wurde nach dem Ersten Weltkrieg Mitglied des Zentralverbandes Deutscher Schuhmacher und trat dem Spartakusbund bei. Nach einem Praktikum in der Landwirtschaft besucht er die Ackerbauschule Ellwangen, die er allerdings nicht abschloss.

Er arbeitete bis etwa 1930 als Landwirt, betätigte sich dann journalistisch im Bund schaffender Landwirte, einer überparteilichen Kleinbauernbewegung der Weimarer Republik. Dann war er nur noch als Journalist tätig, zunächst für die „Süddeutsche Arbeiter-Zeitung“, dem Landesorgan der KPD. 1932 war er verantwortlich für die „Rote Einheitsfront“, das Mitteilungsblatt der Tuttlinger Antifaschisten. Da er ein versierter Redner war und sich tief in die Ideologie des Nationalsozialismus und dessen Vorläufer eingelesen hatte, machte er unermüdlich auf die Gefahren des Nationalsozialismus aufmerksam. Zwar war er KPD-Mitglied, verfasste aber für das Komitee, das die letzte Gegendemonstration initiiert, die auch von SPD und den Gewerkschaften getragen wurde, den Aufruf. Nach dem Brand des Reichstags am 27./28. Februar 1933 verfasste er einen flammenden Artikel, in dem er auch Reichspräsident Hindenburg angriff.

Kolportiert wird, dass er sich der Gefahr bewusst war, die er durch seine publizistischen Äußerungen einging, und fliehen wollte. Dazu hatte er einen Treffpunkt im Wald mit Emil Rieger vereinbart. Die beiden verfehlten sich aber und so konnten sich beide nicht absetzen.

Bereits kurz nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten wurde er am 3. März 1933 verhaftet, im Tuttlinger Gefängnis in Einzelhaft verwahrt und von seinen befreundeten Mithäftlingen isoliert. Von dort wurde er in Konzentrationslager Heuberg gebracht und dann bis Ende November 1933 ins Militärgefängnis nach Ulm. Dann überstellte man ihn zurück ins KZ Heuberg und von dort ins KZ Oberer Kuhberg, wo er gemeinsam mit Dr. Kurt Schuhmacher und anderen Häftlingen isoliert in einer Zelle unter dem Dach gefangen gehalten wurde.

Wegen seiner Aussagen zu Reichspräsident Hindenburg wurde er am 14. März 1934 zu drei Monaten Gefängnis verurteilt, die er vom 28. Mai 1934 bis Mitte August 1934 im Gefängnis in Rottenburg verbrachte. Dann wurde er zurück ins KZ Oberer Kuhberg überstellt. Zu seiner eigenen Überraschung wurde er dort im September 1934 entlassen.

Eine Episode aus dem KZ Heuberg überlieferte seine Nichte Rieger. Im KZ mussten die Häftlinge zu einem Apell vortreten. Bei einer Gelegenheit wurde ein Mithäftling herausgegriffen und schikaniert. Oskar Heuberger konnte nicht zusehen, trat hervor und wollte dem Ganzen ein Ende machen. Er ging mit geballten Fäusten auf einen SA-Mann los, der ihn daraufhin verprügeln ließ und dabei wurden seine Zähne ausgeschlagen .

Zurück in Tuttlingen gab ihm der Fahnder Schatz den Rat, sich mit Kreisleiter Huber auszusprechen, was für ihn aber nicht in Frage kam. Nach seiner Entlassung wurde er von der Gestapo überwacht und musste sich regelmäßig bei der Polizei melden. Er versuchte in dieser Zeit erfolglos, in Tuttlinger Schuhfabriken Arbeit zu finden. Zwischenzeitlich meldete er sich nach Fridingen ab, wo er bei einem Parteigenossen wohnte und mit anderen bedeutenden Männern aus dem Widerstand Kontakt hatte. Landjäger beobachteten ihn und erstatteten nach Tuttlingen Bericht, von wo aus die Vorgänge an die Gestapo-Außenstelle nach Oberndorf weiter geleitet wurden. Da er keine Anstellung finden konnte, probierte er daraufhin, eine kleine Geflügelzucht aufzubauen. Bereits im August 1935 fand eine Hausdurchsuchung in der Wohnung seiner Mutter statt. Er wurde erneut verhaftet, Freunde und seine Verlobte wurden befragt. Er orientierte sich danach in Richtung Schweiz, pachtete in Niedergebisbach, Kreis Säckingen ein Bauernanwesen, das er mit seinen Tieren bezog, das jedoch wenig Ertrag abwarf. 1936 heiratete er in Alterschwand seine erste Frau Herma Agena, deren Vater Meint Uden Agena, die Familie finanziell unterstützte. Als er 1939 für seine Tiere kein Futter mehr erhielt, wandte er sich erneut in Richtung Tuttlingen. Er versuchte wiederum eine Stellung in einer Tuttlinger Schuhfabrik zu erhalten, was ihm nach einigen Versuchen auch gelang. Er arbeitete bei der Firma I. G. Martin Söhne, in der noch weitere Hitlergegner beschäftigt waren. Der Umgang mit Aceton führte zu einer leichten TBC. Nach dem Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 wurde er verhaftet und traf im Gefängnis auf zahlreiche alte Freunde. Nach einigen Wochen wurde er wieder entlassen.

Oskar Heuberger

Nach Kriegsende war er Stadtrat, Beigeordneter und stellvertretender Leiter des Arbeitsamtes. Er arbeitete im Entnazifizierungsausschuss mit und begann wieder Artikel für verschiedene Zeitungen zu schreiben. So war er Mitherausgeber der KPD-Zeitung „Unser Tag“ und schrieb auch für das Blatt „Unsere Stimme“. Er musste wegen seiner angeschlagenen Gesundheit das Sanatorium in Bad Salzhausen aufsuchen.

Für die erlittene Freiheitsentziehung in KZs erhielt er eine Haftentschädigung, eine Beeinträchtigung in seinem beruflichen Fortkommen wurde aber zunächst nicht anerkannt, obwohl Fritz Fleck bestätigte, dass Oskar Heuberger nach seiner Entlassung aus dem KZ keine Chance auf eine Einstellung in einem Tuttlinger Betrieb hatte, da nicht nur die Unternehmer Kontrolle ausübten, sondern diese auch von der Arbeitsfront unter Druck gesetzt wurden. 1961 wurde ihm eine monatliche Rente zugesprochen. Ab 1960 hatte er einen zweiten Wohnsitz in Berlin-Friedrichsfelde, Archenholdstraße 71. Mit seiner zweiten Frau und einem gemeinsamen Sohn lebte er in Berlin-Ost, wo er am 3. Mai 1968 starb.

Quellen/Literatur:
Archiv VVN-BdA Baden-Württemberg Stuttgart, D 671
StA Sigmaringen, ET 5064; StA Sigmaringen Wü 33 T1 3895 (Wiedergutmachungsakte Oskar Heuberger)-eingesehen
Kreisarchiv I-1478
Stadtarchiv,
Allgaier-Schutzbach, Marliese: Tuttlinger Arbeiterbewegung 1932-1945, in: Nationalsozialismus in Tuttlingen, hg. von der Stadt Tuttlingen, Tuttlingen 1986, S. 83-94.
Akten im Kreisarchiv –Widerstand I-1458
Staatsarchiv Sigmaringen Wü 13 T 2 Nr. 2513/056 – identisch mit Stadtarchiv
Gustav Hilzinger wurde am 1. November 1886 in Tuttlingen als ältester Sohn des Felsenwirts Jakob Friedrich Hilzinger und dessen Ehefrau Emma Luise geb. Storz geboren. Die Familie lebte im Gasthaus Felsen, Stuttgarter Straße 8. Das Gasthaus, das sich in Familienbesitz befand, war nach dem kleinen Stadtbrand 1798 außerhalb der Stadtmauern errichtet worden und war deshalb vom Stadtbrand 1803 nicht betroffen. Allerdings brannte es 1902 samt einiger Nachbargebäude ab. Dann wurde das Haus neu errichtet und besaß auch Fremdenzimmer.

Gasthof Felsen

Wir wissen wenig über die Erkrankung von Gustav Adolf. Seine Mutter gab anlässlich seiner Einweisung an, dass er seit seiner Jugend an „hochgradigem Schwachsinn“ leide, deshalb keinen Beruf erlernen konnte und nur „müßig“ im Haus sei. Da sein Vater 1896 eine Mark Strafe wegen des Schulversäumnisses seines Sohnes Gustav bezahlte, kann davon ausgegangen werden, dass er die Schule besuchte. In den folgenden Jahren fiel keine Strafe mehr an. Entweder war seine Behinderung nicht so stark ausgeprägt oder er erkrankte erst im jugendlichen Alter. Die Eltern brachten ihn auf eigene Kosten von 1909 bis 1914 in einer Behinderteneinrichtung in Fluorn unter. Bereits 1911 starb der Vater von Gustav Adolf Hilzinger, die Witwe versuchte den Gaststätten und Pensionsbetrieb weiter zu führen, was ihr mehr schlecht als recht gelang. Durch die Inflation verlor sie ihr Geld und wurde mittellos. Sie verkaufte das Haus an die Firma Huber und Link und betrieb einen Kolonialwarenladen, der allerdings zu wenig Geld abwarf. Die Suche nach einem geeigneten Laden in besserer Lage verlief ergebnislos. Ende 1924 beschloss sie zu ihrer Tochter Emma Hofer und deren Familie ins ferne Maulbronn zu ziehen. Dorthin konnte sie ihren geistesschwachen Sohn nicht mitnehmen. Die Witwe sah sich nicht in der Lage für den Sohn zu sorgen. Am 8. Januar 1925 reichte sie beim Fürsorgeamt einen Antrag ein, den Sohn in einer Pflegeeinrichtung unterzubringen. Sie selber gab an, dass sie ihr Geld verloren hätte und dass auch der Sohn ohne Vermögen sei. Am 13. Januar 1925 zog sie zusammen mit Gustav Adolf nach Maulbronn, bevor der Antrag verhandelt worden war. Jetzt entwickelte sich ein Konflikt zwischen den Fürsorgebehörden in Maulbronn und Tuttlingen, wer denn jetzt für den Zögling zuständig sei. Tuttlingen schaltete die Oberamtsverwaltung von Maulbronn ein, und diese gab den Fall zur Entscheidung an die Ministerialabteilung der Bezirks- und Körperschaftsverwaltung weiter. Inzwischen hatte die Zweiganstalt Göttelfingen der Gustav-Werner-Stiftung (Bruderhaus) der Aufnahme von Gustav Adolf zugestimmt und er war am 12. Februar dort aufgenommen worden. Die Ministerialabteilung entschied dann, dass die Fürsorgepflicht bei Tuttlingen läge, da die Hilfsbedürftigkeit schon in Tuttlingen eingetreten sei. Die städtische Armenfürsorge schloss einen Vertrag mit der Reutlinger Gustav-Werner-Stiftung, die die Göttelfinger Einrichtung betrieb, ab und meldete Gustav Hilzinger dann als Kleinrentner an. Man berief sich auf Reichsgrundsätze, die am 8. Juni 1924 verkündet worden waren und zum Ziel hatte, allen Hilfsbedürftigen den notwendigen Lebensbedarf zu gewähren. Damit wurde die Fürsorgepflicht der Gemeinde an die Bezirksfürsorge abgegeben. Angefügt ist dem Antrag der Satz: “Bei Bestehenbleibens der Friedensverhältnisse wäre derselbe zweifellos nie der öffentlichen Fürsorge anheim gefallen.“ Vermutlich bezieht sich dieser Satz auf die Vermögensverhältnisse der Familie, die wohl in der Hyperinflation, die nach dem Ersten Weltkrieg folgte, ihr Vermögen verlor.

Gasthof Felsen

Die Mutter entschied sich aber bereits im August 1925 wieder um und zog zurück zu ihrem jüngsten noch unverheirateten Sohn nach Tuttlingen. Später machte sie sich als Händlerin selbstständig.

Gustav Adolf blieb in Göttelfingen, abgesehen von einem kleinen Zwischenaufenthalt in Stetten. Am 26. März 1941 wurde er in die Heilanstalt Weinsberg verlegt. Weinsberg fungierte zu diesem Zeitpunkt als Zwischenanstalt für die Tötungsanstalt Hadamar in Hessen. Nachdem die Tötungsanstalt Grafeneck geschlossen worden war, ging das Morden in Hadamar weiter. Am 22. April 1941 wurde er mit 63 weiteren Patienten nach Hadamar gebracht und noch am gleichen Tag in den Gaskammern getötet. Die Mitteilung nannte den 28. April als Todesdatum und versuchte damit das Massenmorden zu verschleiern.
Stolpersteine_Eugen_Birkle

Eigentlich war Eugen Birkle ein froher Mensch. Er wurde am 31. August 1884 in Tuttlingen als Sohn des Schuhmachers Karl Birkle und dessen Ehefrau Katharina geb. Sailer geboren. Er war ein guter Schüler, lernte das maschinelle Schuhmacherhandwerk und arbeitete in Kreuzlingen, Winterthur und in Ungarn. 1909 heiratete er Eugenie Birkle geb. Häfele und hatte mit ihr vier Kinder, von denen zwei jung starben.

Von 1903 bis 1905 leistete er seinen Militärdienst im Infanterieregiment 125. Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 wurde er einberufen und kam u. a. mit dem Infanterieregiment 120 als Sergeant an die Westfront, wo er mehrmals schwer verwundet wurde. Seine erste Verletzung zog er sich 1914 bei einem Sturz in einen sechs Meter tiefen Graben zu, bei dem er sich das linke Kniegelenk brach und das andere verletzte. Drei Monate Lazarettbehandlung folgten. 1916 wurde er durch Granatsplitter am Rücken verletzt. 1917 wurde er mehrmals in die Höhe geschleudert und schwer verschüttet, erlitt eine Granatsplitterverletzung am Kopf, so dass er sein Bewusstsein verlor. Diese Verletzung belastete ihn später schwer. Aber 1918 kam er erneut an die Front und sollte ein Maschinengewehr bedienen. Dabei fiel er um und zog sich Schrapnellverletzungen am linken Unterschenkel zu. Für seinen Einsatz im Ersten Weltkrieg erhielt er das Eiserne Kreuz zweiter Klasse. Leben musste er mit einem Schaden an den Beinen, der ihm das Leben erschwerte.

Er wohnte mit seiner Familie im eigenen Haus Am Schafrain 10, das die Familie erbaut und sich deshalb verschuldet hatte. Er arbeitete bis Mitte 1928 bei den Firmen J. G. Martin Söhne und in der Schuhfabrik Henke & Co. als Maschinenzwicker. Die Kriegsereignisse ließen ihn aber nicht mehr los, die Gräuel, die er an der Westfront gesehen hatte, holten ihn ein und raubten ihm den Schlaf. Ab 28. August 1928 konnte er nicht mehr arbeiten und verbrachte die meiste Zeit im Bett. Er klagte über Kopfschmerzen, die er auf seine Kopfverletzung zurückführte, über ein Ausbrennen des Magens, das er mit dem im Ersten Weltkrieg eingesetzten Gas in Verbindung brachte und über seine schwachen Nerven, die aus der Verschüttung resultieren würden. Für sein Bein, das er nicht voll gebrauchen konnte, baute er sich selbst eine Schiene, die ihm das Stehen erleichterte. Zudem nahm er Morphiumtabletten, um schlafen zu können. Er selber äußerte im August 1929 gegenüber dem Amtsarzt Dr. Graner, dass er sich gegen das Nachlassen seiner Nerven gewehrt, den Kampf aber verloren habe.

Jetzt versuchte er eine Kriegerrente zu erhalten. Tübinger Ärzte untersuchten ihn und konnten nur eine teilweise Beeinträchtigung feststellen, da sie kaum organische Ursachen für seine Beschwerden finden konnten. Schnell war klar, dass seine Erkrankung auch psychische Ursachen hatte. Inzwischen verschlechterte sich sein Gesundheitszustand. Seine Frau meinte im November 1929, dass er nachts Stimmen hören würde. Ein ablehnender Bescheid über eine Invalidenrente verschlimmerte die Situation zusätzlich. Am 16. Dezember 1929 kam der Amtsarzt dann in seine Wohnung. Eugen schilderte ihm, dass er durch ein Mikrophon im Kopf Anweisungen erhalten würde. Er trug stets eine Pistole mit sich, um sich und seine Familie zu verteidigen. Der Amtsarzt ordnete die Unterbringung in der Psychiatrie an. Da in Rottenmünster keine Betten frei waren, brachte ein Wärter ihn am 21. Dezember 1929 in die Heilanstalt Zwiefalten. Dort untersuchten ihn die Ärzte gründlich, sahen aber wenig Potential für eine Heilung. Da seine Mutter der Heimunterbringung nicht zustimmen wollte, wurde immer wieder diskutiert, ob es möglich wäre, ihn nach Hause zu entlassen. Die Mutter wandte sich auch an die Vereinigten Gewerkschaften. Gewerkschaftssekretär Fritz Fleck fragte in der Klinik um Rat, da er die Situation schlecht einschätzen konnte. Die Klinik lehnte eine Entlassung aber immer wieder ab. Seine Frau konnte nicht begreifen, dass aus dem eifrigen Sportler, der vor dem Krieg ein „gutes Gemüt“ hatte, ein Kranker geworden war.

Zunehmend lebte er in Phantasiewelten, die den Bezug zur Realität verloren hatten. Im Juni floh er, als er freien Ausgang hatte, um seine Frau zu treffen und wurde in Uttenweiler aufgegriffen, nachdem er sich mit Zaunlatten gegen eine Festsetzung gewehrt hatte.

Zwischenzeitlich war seine Kriegerrente bewilligt worden, und er erhielt mit Pflegezulage und Invalidenrente 216 Mark, die die Ökonomieverwaltung der Heilanstalt voll beanspruchte. Der eingesetzte Betreuer wollte aber einen Teil für den Unterhalt der Familie und für die Abzahlung der Hypothek, die auf dem Haus lastete, verwenden. Die finanzielle Situation der Familie war mit der Krankheit des Hauptverdienenden schwierig. Am 21. Februar 1931 holte ihn seine Frau dann auf eigenes Risiko aus der Heilanstalt Zwiefalten ab.

Anfang des kommenden Jahres lief er von zuhause weg, wurde im Schwarzwald aufgegriffen, am 13. Februar 1932 ins Krankenhaus in Säckingen gebracht und von dort in die psychiatrische Klinik nach Freiburg überwiesen (Diagnose: Dementia paranoide). Nachdem seiner Frau mitgeteilt wurde, dass er anstaltsbedürftig sei und es nicht möglich sei, ihn zuhause in erforderlicher Weise zu bewachen, da er den Wunsch geäußert hatte, sich nach Indien zu begeben, wurde er am 7. Oktober desselben Jahres in die Heilanstalt Rottenmünster überführt.

Er hatte außer einer Taschenuhr auch eine Wäschegarnitur, einen Mantel, Schuhe und Strümpfe dabei, als er in die Heilanstalt eingeliefert wurde. Von Rottenmünster brachte ihn ein grauer Bus nach Grafeneck, wo er am 3. Februar 1940 ermordet wurde. Seine Urne wurde nach Tuttlingen überstellt und dort sofort auf dem Ehrenfriedhof im Grab 105 beigesetzt.

Seine Ehefrau machte seine links orientierte politische Gesinnung für die Einlieferung in die Psychiatrie verantwortlich. Sie sah ihn als politisch Verfolgten und stellte nach dem Krieg einen Wiedergutmachungsantrag, der allerdings abgelehnt wurde. Seine Enkelin Ingrid Storz-Popp verarbeitete das Leben ihres Großvaters in einem Theaterstück mit dem Namen „Gnadentod“, das u. a. 2014 von der Theater-Schmiede Bobingen aufgeführt wurde.
Erwin Huber wurde am 15. Januar 1903 als unehelicher Sohn der Maria Pauline Haas (1883-1967) in Nendingen geboren. Am 9. November 1903 heiratete Maria Haas den Tuttlinger Instrumentenmacher Karl Huber. Mit der Eheschließung wurde Erwin Haas von Karl Huber legitimiert und erhielt den Namen Huber. Die Familie lebte bis 1931 in der Katharinenstraße 32a und zog dann in die Goethestraße 11, ein Haus das der Stadt Tuttlingen gehörte.

Erwin Huber erlernte wie sein Vater das Handwerk des Instrumentenmachers. Spätestens 1924 erkrankte er an „Schizophrenie“. Diese Krankheitsbezeichnung wurde damals für fast alle psychischen Störungen verwendet und sagt wenig über das Krankheitsbild aus. Über seine Erkrankung ist nichts bekannt. Bereits 1925 wurde er entmündigt, da er sich in der Heilanstalt Rottenmünster befand. Ob er in dem Zeitraum zwischen seiner Ersteinweisung in die Heilanstalt Rottenmünster 1924 und seiner Ermordung 1940 noch einmal zuhause war, wissen wir nicht. Dafür spricht, dass er beim Umzug der Familie ganz offiziell auf den neuen Wohnsitz der Familie umgemeldet wurde.

Spätestens 1924 erkrankte er und wurde am 23. Juli 1924 in die Heil- und Pflegeanstalt St. Vinzenz in Rottweil eingewiesen. Der Antrag auf Invalidenrente wurde am 28. Mai 1925 genehmigt. Die Heilanstalt wurde 1895 von den Barmherzigen Schwestern vom heiligen Vinzenz von Paul in Untermarchtal eröffnet. Sie übernahmen das 1803 säkularisierte Zisterzienserinnen-Kloster Rottenmünster, renovierten die Klostergebäude und nutzten es als private „Irrenanstalt“ mit zunächst 300 Betten, deren Zahl nach und nach auf über 700 erhöht wurde.

1941 wurden alle Einrichtungen der Untermarchtaler Ordensschwestern, einschließlich Mutterhaus, enteignet. Circa 300 Patienten aus der Heilanstalt Rottenmünster wurden in der staatlichen Tötungsanstalt Grafeneck ermordet.

Die erste Abholung war am 3. Februar 1940. Erwin Huber war einer der 45 Patienten, die bei diesem ersten Transport von Rottenmünster nach Grafeneck abgeholt und am gleichen Tag in Grafeneck ermordet wurden. Dr. Josef Wrede, der Leiter der Heilanstalt Rottenmünster, schilderte im Grafeneckprozess seine Versuche, Patienten zu retten. Er hatte zunächst 1939 Listen mit Angaben zur Erkrankung der Patienten ausfüllen und nach Berlin (Reichsminister des Innern) schicken müssen. Als ihm dann eine Liste von 45 Personen zuging, die verlegt werden sollten, begab er sich nach Stuttgart um 15 Personen, die er als tüchtige Arbeitskräfte teilweise als Spezialarbeiter schilderte, zurückzuerhalten. Er glaubte, die Verlegung rückgängig machen zu können und wandte sich an das Innenministerium in Stuttgart, das ihm am 21. Februar die Bitte abschlug. Da waren alle 45 Patienten aber schon lange getötet worden.

Als ihn nach und nach Angehörige der verlegten Patienten von deren Tod unterrichteten, begann er das Ausmaß zu erfassen. Er sagte beim Prozess aus, dass in auffälliger Weise nur Staatspfleglinge abgeholt worden waren und mutmaßte einen finanziellen Hintergrund.
Erwin Huber war einer der 45 Getöteten, er war Staatspflegling, denn er bezog eine Invalidenrente. Am 3. Februar 1940 brachten die grauen Busse der SS ihn von der Heilanstalt Rottenmünster nach Grafeneck, wo er noch am gleichen Tag ermordet wurde. Im gleichen Transport befand sich sein Tuttlinger Nachbar Eugen Birkle.
 

Stolpersteine_Emil_Gerach

Emil Gerach blieb seiner Gesinnung treu. Als überzeugter Kommunist warb er auch in der Zeit des Nationalsozialismus für seine politischen Ideen und geriet dabei an den Falschen. Er wurde denunziert, verraten, angeklagt, verurteilt und verbüßte eine mehr als zwei Jahre dauernde Strafe im Gefängnis Brandenburg-Görden, in dem überwiegend politische Gefangene einsaßen und mehr als 2400 Personen hingerichtet wurde. Es war das Gefängnis, in dem auch Erich Honecker einsaß.

Emil Gerach wurde am 29. September 1898 als Sohn des Schmieds Sebastian Gerach und dessen Ehefrau Marie geb. Pfau in Tuttlingen geboren. Seine Eltern waren aus dem Schwarzwald wegen der Arbeit, die der Vater beim Bau der Donautalbahn gefunden hatte, nach Tuttlingen gezogen. Emil hatte 16 Geschwister von denen neun überlebten. Sein Vater, der 1932 starb, arbeitete später bei der Aktiengesellschaft für Feinmechanik als Schmied.

Emil Gerach absolvierte die Volksschule, begann dann beim Vater eine Lehre als Schmied, die er aber bald aufgab, da er für diesen Beruf zu schwach war. Er lernte in einer Schuhfabrik Zwicker, arbeitete danach aber in einer Gießerei in Singen. 1917 wurde er zum Militär eingezogen, kam an die Westfront und wurde durch einen Granatsplitter verwundet. Nach seiner Entlassung arbeitete er zunächst bei der Schuhfabrik Reichle. Von 1926 bis 1929 war er arbeitslos, flickte aber privat Schuhe zuhause. Dann arbeitete er in verschiedenen Schuhfabriken u. a. Henke und Dihlmann. Nach einer erneuten Arbeitslosigkeit begann er 1938 bei der Firma I. G. Martin Söhne.

Bereits Ende der 1920er Jahre begann er sich für die kommunistische Idee zu begeistern und beantragte 1931 die Aufnahme in die KPD, die jedoch abgelehnt wurde. Man verwies an die Rote Hilfe in der RHD (Rote Hilfe Deutschlands), eine Hilfsorganisation, die der KPD nahe stand und zwischen 1924 und 1936 aktiv war. Er war Mitglied in der Gewerkschaftsgruppe „Leder“ und in der RGO (Roten Gewerkschaftsopposition). In Wirtschaften, an Stammtischen, beim Kartenspielen und auch in der Öffentlichkeit hielt er mit seiner Meinung nicht hinter dem Berg – auch nicht nach der Machtergreifung Hitlers und dem Verbot der KPD. Er kritisierte den NS-Staat, seine Einrichtungen und Lohnabzüge. Gar mancher, der vor 1933 auf Seiten der Kommunisten, Sozialisten oder Sozialdemokraten gestanden hatte, wechselte nun die Front.

Emil Gerach war seit seiner Anstellung in der Schuhfabrik Henke bekannt mit dem Zuschneider Hugo Dieterle. Dieterle verschaffte ihm später eine Anstellung bei der Firma I. G. Martin Söhne, bei der zahlreiche Widerständler beschäftigt waren. Systematisch machte sich Hugo Dieterle an Emil Gerach heran und spionierte ihn aus. Er ließ ihn glauben, dass er sich ernsthaft für die kommunistischen Ideen interessiere und sich vom Nationalsozialismus abwenden würde. Gerach wiederum wollte mit seinen Kontakten imponieren. Dieterle war seit 1933 NSDAP-Mitglied, arbeitete für den Sicherheitsdienst (SD) der Partei, wurde 1940 SS-Mitglied und wurde in die Gendarmerie aufgenommen.

Er erschlich sich als Betriebsobmann das Vertrauen von Gerach und fragte immer wieder nach der „Roten Fahne“ und nach seinen Kontakten in die Schweiz. Gerach berichtete, dass er Franz Greis in Wollmatingen kenne, der als Verbindungsmann zu KPD-Funktionären in der Schweiz fungierte. Als Gerach im Frühjahr Franz Greis in Tuttlingen getroffen hatte, gab Greis ihm ein Kuvert mit Ausschnitten der „Roten Fahne“, einer Schrift, die über Verbrechen im KZ Kisslau berichtete, sowie weitere Druckschriften. Gerach bat ihn außerdem, den Kontakt zu Schweizer Kommunisten herzustellen.

Als im Sommer 1939 Betriebsferien bei der Firma I. G. Martin Söhne waren, drängte Dieterle darauf, dass sie die Kontakte in die Schweiz intensivieren könnten, und Gerach willigte ein. Sie fuhren mit dem Motorrad von Dieterle nach Konstanz und an die Grenzstation Kreuzlingen. Dort fotografierte Dieterle Emil Gerach an der Grenzstation. Dann fuhren sie Richtung Wollmatingen. Da Gerach im Gegensatz zu Dieterle keinen Pass besaß, setzte Dieterle Gerach ab, der dann gemeinsam mit Franz Greis den Rhein im Wasser überquerte und in Richtung eines Badeplatzes auf der Schweizer Seite schwamm. Da an diesem Tag viele Schwimmende im Wasser waren, fielen sie nicht auf. Die Kleidung hatten sie in einem Paddelboot deponiert, das sie mit sich führten. Sie fuhren ins hohe Schilf, zogen sich an, gingen zu Fuß nach Kreuzlingen und fuhren von dort mit der Eisenbahn nach Weinfelden, wo sie sich mit Dieterle verabredet hatten, der die Grenze legal überquert hatte. Von dort fuhren sie mit Motorrad und Bahn nach Winterthur weiter und trafen sich dort mit einem Mann, der sich Surber nannte, den Gerach zunächst für einen Kriminalbeamten hielt. Sie übernachteten bei ihm und fuhren am nächsten Tag wieder zurück. Weitere mögliche Kontaktpersonen trafen sie nicht an.

Im August wurde Emil Gerach dann verhaftet und von zwei Gestapo-Männern auf den Witthoh gebracht. Sie versuchten ihn als Spitzel zu gewinnen. Als er dies ablehnte, wurde er am 28. September 1938 an seinem Arbeitsplatz verhaftet. Er kam nach Stuttgart in Untersuchungshaft und wurde wegen der Vorbereitung von hochverräterischen Unternehmungen und des illegalen Grenzübertritts angeklagt. Das Oberlandesgericht Stuttgart I. Strafsenat verurteilte ihn zu zwei Jahren, zwei Monaten und 12 Tagen Zuchthaus. Während der Verhandlung musste er erkennen, dass sein vermeintlicher Freund Hugo Dieterle als Informant für die Gestapo gedient und dem Kriminalkommissar Bauer wichtige Informationen zugespielt hatte. Unter anderem wurde auch das Foto gezeigt, das Dieterle beim Grenzübergang gemacht hatte. Aber auch sein Stammtischbruder Eugen Ranzenhausen sagte gegen ihn aus.

Er verbüßte seine Strafe in der Haftanstalt Brandenburg-Görden, in der zahlreiche „Politische“ einsaßen. 63 Tage der Haft wurden ihm erlassen. Angeblich hatte sich Kreisleiter Huber für ihn verwendet. Gerachs Ehefrau, Anna Gerach geb. Kempter, die er 1923 geheiratet hatte und mit der er vier Kinder hatte, erhielt keine Unterstützung und musste sich eher schlecht als recht durchschlagen. Sie sagte in einem späteren Interview, dass er nicht mehr derselbe war, als er aus der Haft zurückkehrte.

Nach dem Krieg wurde das Urteil aufgehoben. Emil Gerach erhielt eine Geldzahlung als Wiedergutmachung und arbeitete bei der Stadtverwaltung. Sein vermeintlicher Freund Hugo Dieterle wurde als Belasteter eingestuft, seiner Ämter enthoben. Da er nichts besaß, konnte der Staat ihn nicht regresspflichtig machen. Emil Gerach starb am 4. Dezember 1961 in Tuttlingen.
Was Karl Josef Zepf aus der Bahn geworfen hat, wissen wir nicht. Er wurde als Sohn des Instrumentenmachers Heinrich Zepf und dessen Ehefrau Maria geb. Hepfer am 12. Januar 1899 in Tuttlingen geboren. Er galt als intelligenter Mann und lernte wie sein Vater den Beruf des Instrumentenmachers. 1931 heiratete Barbara Baier aus Gunningen, mit der er zwei Töchter hatte.

Die Familie lebte zunächst in der Papiermühle und zog 1929 in ein städtisches Gebäude Auf dem Schafrain 19. 1931 wurde er arbeitslos und bald zeigten sich die ersten Krankheitssymptome, sodass er im Mai 1933 erstmals in die Heilanstalt Rottenmünster aufgenommen wurde. Dann wurde er wieder entlassen, da sich sein Zustand gebessert hatte. Im Juni 1934 wurde vom Erbgesundheitsgericht seine Zwangssterilisation beschlossen.
Die Erbgesundheitsgerichte wurden im Deutschen Reich durch das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14. Juli 1933 eingeführt und existierten ab dem 1. Januar 1934. Als Erbkrankheiten galten angeborener Schwachsinn, Schizophrenie, zirkuläres (manisch-depressives) Irresein (heute Bipolare Störung), erbliche Fallsucht (heute Epilepsie), erblicher Veitstanz (heute Chorea Huntington), erbliche Blindheit, erbliche Taubheit und schwere erbliche körperliche Missbildung.

Bis Mai 1945 wurden aufgrund der Beschlüsse der Erbgesundheitsgerichte etwa 350.000 Menschen zwangssterilisiert. Organisatorisch war das Erbgesundheitsgericht die Amtsgerichte angegliedert. Es musste mit einem Amtsrichter als Vorsitzenden, einem beamteten Arzt und einem weiteren für das Deutsche Reich approbierten Arzt besetzt sein, der mit der „Erbgesundheitslehre besonders vertraut“ sein sollte.

Das Tuttlinger Erbgesundheitsgericht bestand aus dem Amtsgerichtsdirektor Karl Hirzel (geboren 28.1.1878 in Ellwangen Jagst), dem Amtsarzt Dr. Alfred Schöck (20.5.1897, Öhringen) und dem Arzt Dr. Georg Sippel (lebte in Trossingen, geboren 2.3.1875 in Stuttgart).

Karl Zepf plagten Wahn- und Verfolgungsideen in zunehmendem Maße, sodass seine Frau und seine Kinder nicht mehr sicher waren. Deshalb wurde er am 22. Dezember 1936 dauerhaft in die Heilanstalt Zwiefalten eingewiesen. Von dort wurde er 1939 in die Heilanstalt Schussenried verlegt. Am 18. Juni 1940 brachten die grauen Busse der SS ihn mit 75 weiteren Männern nach Grafeneck, wo er auch gleich getötet wurde. Seine Urne traf am 24. August in Tuttlingen ein und wurde in der Mauernische 224 beigesetzt.

Seine Familie stellte einen Wiedergutmachungsantrag, der jedoch abgelehnt wurde. Erst 1998 wurden sämtliche Beschlüsse der Erbgesundheitsgerichte, die eine Unfruchtbarmachung angeordnet hatten, aufgehoben. Der Deutsche Bundestag hat in seiner Sitzung am 24. Mai 2007 das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14. Juli 1933 geächtet.
BolelawProchazkaPolizei_Bern

Vielleicht hätte Boleslaw Prochazka im Jahre 2018 seinen 95. Geburtstag feiern können, wäre er nicht 1944 in Tuttlingen ermordet worden. Die Gestapo ließ ihn am 28. August 1944 um 18.20 Uhr durch zwei Häftlinge im Harreser Tal erhängen. Überwacht wurde die Hinrichtung vom Leiter der Oberndorfer Gestapo-Außenstelle Hans Zukschwerdt. Hingerichtet wurde der 21-jährige polnische Zwangsarbeiter ohne Urteil. Zukschwerdt berief sich in einer Befragung nach dem Krieg auf eine Anordnung des Reichssicherheitshauptamtes, auf deren Umsetzung der Leiter der Staatspolizei in Stuttgart, Friedrich Mußgay, bestanden hatte. Da dieser wegen Treibstoffknappheit nicht selber aus Stuttgart anreisen konnte, delegierte er die Hinrichtung an seinen Mitarbeiter Hans Zukschwerdt, der zu der Hinrichtung weitere polnische Zwangsarbeiter aus der Gegend und einen Arzt beorderte. Weil der Amtsarzt Dr. Alfred Schöck nicht teilnehmen wollte, erklärte sich der Augenarzt Dr. Cremer bereit, den Tod nach der Hinrichtung zu bescheinigen. Außerdem nahm der SA-Mann Eugen Renninger an der Erhängung teil. Die Polizei musste den Ort der Hinrichtung, der nicht weit entfernt vom letzten Arbeitsort des Boleslaw Prochazka, dem äußeren Talhof, war, absperren.

Vorgeschichte

Boleslaw Prochazka wurde am 8. November 1923 als Sohn des Försters Eugen Prochazka und dessen Ehefrau Anastazja geb. Stankowska in Lentownia (Prezemysl) geboren. Die Familie verzog später nach Bochnia bei Krakau. Boleslaw besuchte mit Erfolg die Volks- und die Mittelschule. Er sprach neben polnisch auch deutsch und russisch. Nach dem Überfall Hitlers auf Polen wurden am 16. Dezember 1939 in Bochnia zwei Polizisten ermordet. Die deutschen Besatzer verübten daraufhin ein erstes großes Massaker in Polen und ließen 52 Einwohner von Bochnia ermorden. Zahlreiche weitere kamen in Lager oder zur Zwangsarbeit nach Deutschland. Boleslaw Prochazka war wohl einer von ihnen. Er wurde am 27. Juni 1940 im Alter von 16 Jahren verhaftet und am 2. Juli nach Deutschland deportiert. Am 7. Juli wurde er dem Wurmlinger Landwirt Josef Zepf (Zum Sternen) als Zwangsarbeiter zugewiesen. Im Dezember 1940 wagte er einen ersten Fluchtversuch Richtung Heimat. Er kam aber nur bis in die Nürnberger Gegend. Dann wurde er aufgegriffen und in ein Lager bei Nürnberg eingewiesen.

Im September 1941 überstellte man ihn nach Tuttlingen zurück und wies ihm den Bauern des äußeren Talhofs, Christian Reinhardt, als Arbeitsplatz zu. Er wurde als polnischer Zivilarbeiter polizeilich erfasst. Dabei wurde auch ein Foto aufgenommen, das ihn mit kahl geschorenem Kopf zeigt, einer Strafmaßnahme, die oft an Flüchtlingen durchgeführt wurde. Beim Talhofbauern half er in der Landwirtschaft, wofür er 50 Reichsmark im Monat erhielt. Im Januar 1944 reifte in ihm erneut der Plan, die Flucht zu wagen. Dieses Mal war sein Ziel die Schweiz. Als Grund für seine Flucht gab er später an, dass es häufig Differenzen mit seinem Arbeitgeber gab. Er bereitete seine Flucht vor, besorgte sich Kartenmaterial, stahl dem Arbeitgeber 600 Reichsmark, Speck und Butter.

Am 30. Januar 1944 um 22 Uhr machte er sich zu Fuß auf in Richtung Schweiz. Am 1. Februar 1944 überquerte er bei Barzheim bei Thayngen die Schweizer Grenze unbemerkt. Dann ging er nach Schaffhausen. Dort wurde er einen Tag später in der Vordergasse in Schaffhausen von der Schweizer Kantonspolizei aufgegriffen, nachdem er Geld gewechselt hatte und in der Wechselstube des Schweizer Bankvereins aufgefallen war. Die Polizei verbrachte ihn zunächst ins Gefängnis, dann ins Auffanglager Ringlikon. Inzwischen beschlagnahmte man sein Geld und zog Erkundigungen über ihm ein. Schnell war klar, dass er seinen Arbeitgeber bestohlen hatte und so rechnete man mit einem Auslieferungsgesuch aus Deutschland. Wieder wurde er fotografiert, jetzt mit mächtiger Haarpracht in Anzug und Krawatte. Am 28. März 1944 wurde er – nachdem noch kein Gesuch von deutscher Seite eingegangen war – ins Arbeitslager für Internierte in Bürten Reigoldswil (Kanton Basel) überstellt.

Ende April traf dann eine Anfrage der Staatsanwaltschaft Rottweil in der Schweiz ein, die sich aber nur nach seinem Aufenthaltsort erkundigte. Die Schweizer Behörden waren sich einig, dass man ihn wohl ausliefern müsse, wenn der Antrag gestellt werden würde. Freilich war man sich im Klaren darüber, dass er in Deutschland nichts Gutes zu erwarten hätte, gab aber trotzdem seinen Aufenthaltsort weiter. Jetzt kam er den Behörden aber zuvor. Am 11. Mai hatte er einen Urlaubsschein, der ihm den Aufenthalt in Schaffhausen und in Zürich erlaubte. Als Reiseziel gab er Zürich Dufourstraße an. Um 22 Uhr sollte er sich wieder zurückmelden, was er aber nicht tat und galt seitdem als flüchtig. Am 25. Mai 1944 wurde im Schweizer Polizeianzeiger ein Haftbefehl für Boleslaw Prochazka veröffentlicht. Bereits am 17. Mai hatte die Eidgenössische Polizeiabteilung dem Oberstaatsanwalt in Rottweil mitgeteilt, dass der Internierte entflohen sei.

Zu den Gründen seiner erneuten Flucht gibt uns der amerikanische Geheimdienstoffizier Fransisco Rhode Informationen. In seinem Bericht vom 22. Juni 1945 beschreibt er, dass Prochazka aus der Schweiz zurückkehrte, um seine Braut und einen Freund zu retten. Bei einem erneuten Grenzübertritt sei er dann inhaftiert worden. Zwei Landsleute von ihm seien gezwungen worden, ihn zu erhängen und mit ihren eigenen Händen zu verscharren.
Wir wissen nicht, wann er verhaftet wurde. Fraglich bleibt, ob er Tuttlingen noch einmal erreichte und die Verhaftung bei dem erneuten Grenzübertritt passierte oder ob er sofort verhaftet wurde, als er deutschen Boden betrat. Wir wissen auch nicht, in welchem Gefängnis er bis zu seiner Hinrichtung einsaß. Bei seiner Hinrichtung am 28. August 1944 war er 21 Jahre alt.

Am 20. Juni 1945 musste sein Leichnam von Eugen Renninger, Dr. Cremer und Kriminalkommissar Held unter Aufsicht von französischer Soldaten mit bloßen Händen ausgegraben und in einen Sarg gelegt werden. Anschließend wurde er auf dem Tuttlinger Friedhof feierlich beigesetzt. Neben einigen polnischen Landsmännern nahmen auch eine Abordnung der Militärregierung und der Tuttlinger Bürgermeister an der Überführung und der Trauerfeier teil.

Im Sommer 1945 begannen die Schweizer Polizeibeamten darüber nachzudenken, was mit den beschlagnahmten 681 Reichsmark passieren sollte. Man beschloss, das Geld bei Gelegenheit der Deutschen Kriminalpolizei zu übergeben, damit diese es dem rechtmäßigen Eigentümer zurück erstattet werden konnte.


BolewaProchazkaArbeitskarte