ZEITTIEFE – so heißt unsere Ausstellung der Malerin Dietlinde Stengelin in der Galerie der Stadt Tuttlingen.
Die Schau umfasst Bilder seit 1960, und so deutet sich mit dem Begriff der „Zeittiefe“ die Verknüpfung mit einem bereits über viele Jahrzehnte fortdauernden künstlerischen Schaffen an.
Gleichzeitig ist mit „Zeittiefe“ auch der Dialog mit Vergangenem gemeint.
Für Dietlinde Stengelin bedeutet Malen ein ständiges Aufbrechen ins Unbekannte, das mit jedem Bild neu geschieht. Letztlich verbirgt sich in jedem Bild, das sie malt, ein Stück ihres eigenen Lebens und Erlebens.
Was wird im Video gesagt?
Anna-Maria Ehrmann-Schindlbeck:
"Aber ich find' schon, dass in der Machart sich auch immer wieder etwas grundlegend ändert, weil Sie ein Mensch sind, der doch immer offen bleibt und neu erforscht…"
Dietlinde Stengelin: "…sucht – immer sucht. Als Suchende einfach."
Ihre Kindheit und Jugend hat Dietlinde Stengelin in Tuttlingen verbracht. Es war eine Zeit der Entbehrungen, in der sie 1940 als Kriegskind hier zur Welt kam. Und die Begrenztheit der Möglichkeiten in dieser Zeit weckte umso mehr ihre Sehnsucht nach Neuerkundung. Von der Kunst war sie vor allem deshalb angezogen, weil sie in ihr die Möglichkeit einer ungekannten Freiheit sah.
Zunächst zeichnete sie bevorzugt Menschen – wie in den hier gezeigten Zeichnungen von Familienmitgliedern aus dem Jahre 1960 zeigen.
Im Jahr 1959 nahm Dietlinde Stengelin, 19-jährig, an der Internationalen Sommerakademie für Bildende Kunst Salzburg teil. Diese damals noch junge Einrichtung hatte Oskar Kokoschka 1953 als „Schule des Sehens“ gegründet.
Dietlinde Stengelin: "Also, das Sehen, das merkt man natürlich auch - also das Bildersehen erfordert ja was anderes. Und Sehbildung, dass man sehgebildet wird, erfordert einfach, dass man sehr vieles anschaut."
Schon früh legte Dietlinde Stengelin mit großformatigen Bildern von großer Ausdruckskraft ein Zeugnis von der erlangten künstlerischen Reife und Eigenständigkeit ab. Im Jahr Ihres Studienabschlusses malte sie etwa das Gemälde „vor Blau“, 1965.
Der für die Künstlerin – auch später noch - typische vielschichtige Aufbau im Übereinander von mehreren gemalten Schichten und collagiertem Papier findet sich bereits in diesen frühen Werken.
Eine Hauptrolle in der Wirkkraft der Bilder spielt bei Dietlinde Stengelin unverkennbar die Farbe,
die sie ohne Scheu und mit großer Sicherheit einzusetzen weiß.
Das Verwenden von Collage-Elementen – hier beispielsweise von einem Weinetikett – kam zeitgleich in der Pop-Art der 1960er Jahre auf, war in dieser Form in der Malerei neu und verband auf ungewöhnliche Weise den abstrakten Bildraum mit dem konkreten Alltag der Jetztzeit.
Dietlinde Stengelins Bilder, die ebenso kraftvoll wie differenziert sind und Archteypisches mit Neuschöpfung verbinden sorgten für Aufsehen. Ihre Art der Malerei hatte etwas Befreiendes, und so konnte sich Dietlinde Stengelin im Alter von nur 25 Jahren an der Ausstellung des Baden-Württembergischen Künstlerbundes in Karlsruhe beteiligen.
1966 erhält sie den renommierten Villa-Romana-Preis, der mit einem 10-monatigen Aufenthalt im gleichnamigen Künstlerhaus in Florenz verbunden war.
Das Eintauchen in eine andere Kultur war ein großes Abenteuer.
Dietlinde Stengelin: "Für mich war eine schwierige Zeit in der Villa Romana. In der großen Vergangenheit zu sein und in den Museen eben zu sehen, was da Großartiges gemacht worden ist, kann man ja gar nicht verbessern."
Dietlinde Stengelin tritt ein in den spannenden Dialog mit Kunstgeschichte und Mythologie. In ihrem Fokus stehen zum einen Gemälde von herausragenden Meistern, vor allem deren Bilder von weiblichen Figuren sind Gegenstand ihrer Betrachtungen. So bezieht sie eine in der Zeit in Florenz entstandene Serie abstrakter Bilder auf das berühmte, in den Uffizien ausgestellte Gemälde „Venus von Urbino“ (1538) von Tizian.
Die gelöste Farbe wird in Verbindung mit freien Formelementen zum Akteur im Bild, in der Serie „Venus nach Tizian“ (1966) als Variationen in Grau, Gelb und Rot.
Gerade in der Bezugnahme auf das berühmte Vorbild kommt die radikal moderne Auffassung zum Ausdruck.
In den 70er Jahren entsteht ein großer Block von Arbeiten, in dem sie bestrebt ist, den aus den frühen sowie späteren Jahren bekannten persönlichen Ausdruck herauszunehmen.
Dietlinde Stengelin: "Also, da habe ich gedacht, vielleicht wäre es doch besser, man würde was ganz anderes machen, was aus der Zeit. Und da gibt es eine experimentelle Phase – wo ich mit Kunststoffen gearbeitet habe. Wobei man eben sagen muss, andere Technik ist noch keine Erneuerung. Also, auch nicht. Und, ja, dann habe ich diese Objekte abgemalt und hab die in erfundene Landschaften gestellt.
Und es kam so eine ganz eigene Welt zutage. Das ist auch die Zeit, wo ich dann keinen Pinsel-Duktus mehr wollte, sondern dieses Airbrush-Verfahren angewendet habe, um also die Handschriftlichkeit zu entfernen."
Eine wichtige Quelle der Inspiration ist für Dietlinde Stengelin die Natur. Seit 1979 ist Langenargen am Bodensee ihr Wohnsitz, und das Umfeld von Wasser, Himmel und Topographie ist eine ständige Anregung.
Eindrucksvolles Beispiel ist das Diptychon „Feuer und Erde“ und „Luft und Wasser“, eine Hymne auf die Schöpfung und die vier Elemente.
Weiterhin tritt sie in einen malerischen Dialog mit den wichtigen weiblichen Figuren aus Mythologie und Christentum. Ob es sich um Eva, Maria, Daphne oder einen Engel handelt, immer sind die vom Umriss her erkennbaren Figuren wie Erinnerungen, die am Verschwinden sind.
Der stete Drang zu neuen Horizonten in Dietlinde Stengelins Werk bringt uns wieder zurück zum Beginn des künstlerischen Werdegangs, dem Sehnsuchtsmoment, das Antrieb für ein Leben in Hingabe an die Kunst ist.
Der zauberhafte Blick vom Witthoh über das Hegau zum Bodensee war eine unvergleichliche und prägende Erfahrung. Denn dieser Eindruck bestätigte, dass sich jenseits der Berge die Welt öffnet.
Mit dem ebenso begabten jüngeren Bruder Hans-Werner Stengelin, mit dem sie von Kindheitstagen an viel malte und zeichnete, teilte sie die Begeisterung für das künstlerische Schaffen. Fotos aus den jungen Jahren sowie ein auf der Anhöhe des Witthoh gedrehter experimenteller Super-8-Film aus dem Jahr 1969 dokumentieren dies.
Aus aktueller Warte im Jahr 2021 auf das Werk von Dietlinde Stengelin zurückzublicken, ist eine Bereicherung, denn bis heute ist es lebendig und wandlungsfähig geblieben. Im Spiel von Licht und Dunkel feiern ihre Bilder in der großen Reihe der Koloristen ein Fest der Farben. Für den mit vielen Zwängen konfrontierten modernen Menschen schaffen diese Bilder einen Ausgleich für die unerfüllte Sehnsucht nach Sinnlichkeit, Poesie, Mystik und Freiheit.
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