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Bewegte Zeiten. Die 1970er und 1980er Jahre in Tuttlingen

Die Ölkrise in den 70ern, der Reaktorunfall in Tschernobyl und Friedensbemühungen prägten die 70er und 80er Jahre nicht nur in Deutschland, sondern auf der ganzen Welt. Wie wirkten sich Krisen, Umbrüchen und Veränderungen in Tuttlingen aus? „Bewegte Zeiten. Die 1970er und 1980er Jahre in Tuttlingen“ – Unter diesem Titel geht die Ausstellung im Tuttlinger Fruchtkasten dieser Frage nach.

Oberbürgermeister Beck spricht im Video: "Sehr geehrte Damen und Herren, wenn unsere Nachfahren einmal Bilder aus den Jahren 2020 und 2021 anschauen, werden sie sich wundern. Sie werden sich wundern, über die Zeit, in der alle Masken trugen, in der vieles gesperrt oder ganz verboten war und vermutlich – oder hoffentlich – werden Ihnen die Bilder wie aus einer anderen Zeit, wie aus einer fremden Zeit, vorkommen. Fotos konservieren die Erinnerungen und rufen diese in unser Gedächtnis zurück. So geht es auch bei der Ausstellung im Fruchtkasten. Sie führt uns zurück in die 70er und in die 80er Jahre. Eine Zeit der Umbrüche, der Reformen und auch der Proteste. Vieles, was wir auf diesen Bildern sehen, kommt uns heute unendlich weit entfernt vor, obwohl es gerade mal ein paar Jahrzehnte her ist. Vieles aus dieser Zeit wirkt bis heue nach. Hier in Tuttlingen sind es vor allem die Eingemeindungen von Möhringen, Nendingen und Esslingen. Die Ausstellung holt diese Epoche die Nachkriegsgeschichte in die Gegenwart. Es ist übrigens die zweite Ausstellung im Fruchtkasten, bei der wir Corona bedingt auf eine große Vernissage in einem dicht besetzten Rathaus-Foyer verzichten und uns stattdessen auf diesem Weg an Sie wenden. Ich hoffe, dass wir uns das nächste Mal wieder bei einer echten Vernissage in Präsenz sehen."

Viele Fassetten besaßen das siebte und das achte Jahrzehnt des vergangenen Jahrhunderts. Wir sehen Bilder von Konzerten in der Diskothek „Akzente“ ebenso wie nachdenkliche Fotos von Menschen, die auf Umweltsünden aufmerksam machten oder gegen eine Autobahn durch das Rabental über den Witthoh demonstrierten. Wir sehen Bilder von gewaltigen Gegendemonstrationen zu NPD-Parteitagen, die in Tuttlingen stattfanden. Wir sehen auch Bilder von Menschen, die für Frieden und gegen die Stationierung von Raketen mit Atomsprengköpfen demonstrierten. Viele Strömungen, die in den 70er und 80er Jahren aufkamen, erreichten nach und nach auch Tuttlingen. Aber die aktivste war zumindest zu Beginn – die Friedensbewegung.

Museumsleiterin Woll sagt unter Einblendung passender Bilder: "Teilnehmerinnen und Teilnehmer am evangelischen Kirchentag in Nürnberg 1979 brachten die Idee nach Tuttlingen, sich für eine pazifistische Weltordnung einzusetzen. "Ohne den Schutz militärischer Rüstung" sollte der Frieden „ohne Waffen“ politisch entwickelt werden. Der 1979 verabschiedete Nato-Doppelbeschluss, der den Ausbau der Stationierung von Mittelstreckenraketen mit Atomsprengköpfen in Deutschland vorsah, befeuerte die Kritik am Wettrüsten.

Die Initialzündung zur Gründung einer Regionalgruppe „Ohne Rüstung leben“ in Tuttlingen gaben dann eine Gedenkfeier und ein Friedensgottesdienst in der evangelischen Stadtkirche. Die Gedenkfeier wurde anlässlich der 40. Wiederkehr des Kriegsausbruchs am Vorabend des 1. September 1979 von verschieden Gruppen gestaltet. Eine eindringliche Predigt tat ihr Übriges. Nach dem Gottesdienst war das Ergebnis überwältigend. Mehr als 60 Selbstverpflichtungen wurden unterschrieben. Alle traten Sie der Initiative "Ohne Rüstung leben" bei.

Auf dem Bild hier sieht man jetzt die Frage "Why?. Man sieht links den amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan und rechts den russischen Staatschef Leonid Breschnew und Verbunden damit ist die Parole "Schuß mit dem Rüstungswahnsinn". Das war die Aufforderung, das Wettrüsten zu beenden.

Das jetzt aufkeimende Engagement entwickelte sich ohne das Wissen, dass es 9 Jahre zuvor in unmittelbarer Nähe zu einem atomaren Zwischenfall mit einem Atomsprengkopf gekommen war. Zwischen 1963 und 1976 war Böttingen Standort einer Abschussanlage für militärische Raketen, die zeitweise mit atomaren Sprengköpfen versehen waren. Am 22. Februar 1970 kam es dort zu einer Beinahe-Katastrophe. Während unsachgemäßer Wartungsarbeiten an dem nuklearen Sprengkopf einer Pershing-Rakete fiel dieser zu Boden. Der Abschussbereich wurde geräumt und die Stellung hermetisch abgeriegelt. Die befürchtete Detonation erfolgte jedoch nicht. Noch einmal Glück gehabt!

Auch ohne dieses Wissen war die Tuttlinger Gruppe war engagiert. In zahlreichen Veranstaltungen wie Friedenstage, Ausstellungen, Information- und Gesprächsabende, Informationsstände, Liedern und Gedichte, Konzerte, Plenumsdiskussionen, Jugendgottesdiensten, liturgischen Nächten oder der Teilnahme an der Gedenkfeier auf dem Friedhof wurden die Tuttlingerinnen und Tuttlinger für dieses Thema sensibilisiert. Rasch folgten auch Taten: Die Gruppe reiste zum Ostermarsch nach Großengstingen, zur Demonstration gegen den Nachrüstungsbeschluss nach Pfullendorf, mit zwei Bussen zum Kirchentag nach Hamburg. Am 6. August 1981 wurde mit Transparenten in der Innenstadt auf den Jahrtag des Atombombenabwurfs in Hiroshima hingewiesen. Ein Großprojekt war die Organisation der Teilnahme an einer Demonstration am 10. Oktober 1981 in Bonn. Dazu wurde ein Sonderzug gebucht, mit dem 600 Demonstranten mitfuhren.

Letztendlich entschloss man sich einen Verein zu gründen, der die Interessen wahrnehmen sollte: Der Verein zur Förderung der evangelischen Jugend- und Gemeindearbeit wurde ins Leben gerufen. Aus ihm ging später der Rittergartenverein hervor.

1981 stellte sich wieder die Frage, ob die Friedensbewegung am Ende sei. Da resümierten einige übrig gebliebene Vertreter der Friedensinitiative, dass viele Ziele erreicht seien, dass beispielsweise die Demokratisierung in Osteuropa ohne diese Bewegung nicht möglich gewesen wäre. Der Initiative fehlte dann aber der Nachwuchs.

In den 1980er Jahren veränderte Tuttlingen sein Gesicht. Die Innenstadt wurde neugestaltet und sie wurde Fußgängerzone umgebaut.

Tuttlingen galt lange Jahre als die „graue Stadt“, was als Synonym verwendet wurde für Eigenschaften wie „unauffällig“, nicht gerade „heiter stimmend“ und ein „wenig vernachlässigt“. Schließlich führte bis Anfang der 1980er Jahre zudem die verkehrsreiche Bundesstraße 311 (Freiburg-Ulm) direkt über den Marktplatz.

Ausgelöst durch Fördermittel von Bund und Land wurde in den später 1970er Jahren die Planung der „neuen“ Stadtmitte in Angriff genommen. Bis Ende 1986 wurde die Stadtmitte neugestaltet. Der Verkehr wurde umgeleitet, die Innenstadt zur Fußgängerzone umgebaut, es wurden Bäume gepflanzt, ein Brunnen im Zentrum errichtet und schließlich zog der jetzt so beliebte Wochenmarkt ins Zentrum der Stadt. Am 23. Mai 1987 konnte die neue Stadtmitte feierlich eröffnet werden.

Der erste Abschnitt der Fußgängerzone entstand Anfang der 1980er Jahre in der Gartenstraße und erhielt deshalb liebevoll die Bezeichnung „Zönle“. Oberbürgermeister Heinz-Jürgen Koloczek begrüßte seine Gäste euphorisch bei der Einweihung des ersten Teilstücks der Fußgängerzone, des Zönles beim Stadtfest im Jahre 1981."

Gezeigt wird ein altes Video, in dem Oberbürgermeister Koloczek spricht: "Zunächst einmal, ich weiß auch nicht wie es kommt, aber es ist wunderschön, dass die Sonne scheint. Ich könnte mir für unser Stadtfest wirklich keine nettere Überraschung nach diesen vielen Regentagen wünschen, als dass wir nun heute Morgen einen strahlenden Herbsthimmel haben und Sonnenschein.“

Die Ausstellung kann im Fruchtkasten in Tuttlingen dienstags, donnerstags, samstags und sonntags von 14 bis 17 Uhr besichtigt werden. Sie steht bis zum 26. September.