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Camill Leberer – Glashaut

Im Video sieht man die Kunstwerke der Ausstellung "Glashaut" von Camill Leberer sowie den Künstler Camill Leberer im Interview.

Grundlage für das Video ist ein im Vorfeld der Ausstellung „Glashaut“ im Stuttgarter Atelier gefilmtes Gespräch mit Camill Leberer, in dem er über einige Aspekte seines künstlerischen Schaffens spricht. Ergänzend dazu geben Aufnahmen in der Galerie der Stadt Tuttlingen Einblicke in die fertige Ausstellung. Camill Leberer, der in Baden-Württemberg zu den bekannten Künstlern zählt, hat ein für die Räume der Galerie maßgeschneidertes Ausstellungskonzept entwickelt und hierfür neue Arbeiten geschaffen. In Camill Leberers Werken verbinden sich Malerei, Zeichnung und Skulptur, Fläche und Raum. Sich überlagernde Farbschichten treten in ein spannungsvolles Verhältnis zu den Objektkörpern aus Metall und Glas, die als Bildträger dienen. Transparenz und Dichte schaffen ein Wechselspiel von Offenheit und Geschlossenheit, von Raum und Fläche. Das Licht in seiner Immaterialität spielt eine herausragende Rolle, indem seine Reflexion Räumlichkeit erzeugt und in eine lebhafte Beziehung mit dem sehenden Auge tritt. Betrachter*innen der Wand-, Boden- und Sockelarbeiten werden unweigerlich veranlasst, ihre Position mehrfach zu ändern, um deren plastisch-räumliche Erscheinung im Fluss der Bewegung zu erleben. Durch ihre Aktion wird ihre wesentliche Rolle als Wahrnehmende deutlich.

Gespräch mit Camill Leberer

Anna-Maria Ehrmann-Schindlbeck:

Camill, deine Arbeit hat für mich in gewisser Weise etwas sehr Antithetisches, also, man könnte zum Beispiel sagen, die Komplexität liegt im Einfachen.

Was sehen wir? Wir sehen relativ klare Linien, rechte Winkel, Rechtecke, ein paar wenige Farben, also klare, einfache Dinge, eine gewisse Stringenz – und aber dann, wenn man genauer hinschaut, eine verschachtelte Komplexität.

Camill Leberer:

Im Prinzip sind die Sachen, die ich mache, immer sehr antithetisch oder dialogisch auch. Das hat damit zu tun, dass ich diese Dialoghaftigkeit als ein ganz wichtiges, existenzielles Phänomen empfinde. Wir leben nicht alleine, sondern wir leben immer nur im Zusammenhang mit anderen. Und es hat natürlich auch eine lange Tradition, die praktisch bis zur Gnosis zurückgeht zwischen der These und der Antithese, zwischen Gut und Böse, dem Licht und dem Dunkel. Also, von daher ist es schon eine Sache, die quasi kulturhistorisch zurückgreift und die ich adäquat zu unserer jetzigen Situation finde.

Anna-Maria Ehrmann-Schindlbeck:

Es geht vor allem um den Raum. Obgleich Malen und Zeichnen für dich wichtige Bausteine sind bist du von der Herangehensweise ein Bildhauer.

Camill Leberer:

Ja.

Anna-Maria Ehrmann-Schindlbeck:

Und ja, was fasziniert dich am Erlebnis des Raumes so sehr?

Camill Leberer:

Ja, der Raum ist letztendlich die konstituierende Situation unserer Existenz. Wir existieren niemals ohne Raum. Nichts existiert ohne Raum. Von daher ist es schon eine existenzielle Grundlage.

Es hat sicherlich auch damit zu tun, dass ich mich als Bildhauer verstehe und die Welt eher räumlich wahrnehme und mich selbst auch als Raum wahrnehme, sowohl Außen als auch als innerer Raum. Das ist ein wichtiger Aspekt.

Anna-Maria Ehrmann-Schindlbeck:

Da sprichst du vom inneren Raum. Mit dem Inneren ist ja gleichzeitig immer ein subjektives Moment angesprochen. Also, wenn ich dich richtig verstehe, dann gibt es in deiner Arbeit nicht diesen objektiven Raum, an den gewisse Vorgänger, auch vom Bauhaus, noch geglaubt haben, dass es den gibt.

Camill Leberer:

Also, es ist überhaupt schwierig mit der Objektivität. Einen objektiven Raum kann es gar nicht geben, weil unsere Erinnerung auch nicht objektiv ist. Es gibt auch keinen Raum ohne Erinnerung. Und von daher, jede Erinnerung die ich habe, ist immer subjektiv. Es gibt keinen Raum ohne Bewegung natürlich auch. Sobald ich quasi existiere, greife ich in einen Raum aus und damit ist ein Grundmoment des Raumes auch die Bewegung im Raum. Also wie gesagt, ohne Bewegung gäbe es auch keinen Raum. Daher ist der Betrachter als derjenige, der sich im Raum bewegt, ein wichtiger Teil, um über diese Skulptur, oder dieses Bild oder die Zeichnung, oder wie auch immer, etwas zu erfahren. Selbst bei einem Gedicht gibt es eine zeitliche Abfolge. Es gibt nie das Gedicht als Ganzes, sondern ich lese das und in diesem Lesen entsteht eine zeitliche Abfolge. Das ist wie eine Bewegung im Raum. Also, am Anfang eines Gedichtes liegt auch das Finden von Worten.

Anna-Maria Ehrmann-Schindlbeck:

Ja, weil die Worte, die gibt es ja schon…

Camill Leberer:

Ja.

Anna-Maria Ehrmann-Schindlbeck:

…und da kommt es eigentlich dann immer darauf an, wie man sie einsetzt, indem ich mich frage: Was bedeutet dieses spezielle Wort für mich persönlich?

Camill Leberer:

Was löst es in dir aus? Wenn das nichts in dir auslöst, dann geht es vorbei. Dann ist es wie Zeitunglesen. Wenn es in dir einen Raum eröffnet, dann kannst du damit auch was anfangen.

Anna-Maria Ehrmann-Schindlbeck:

Das Einsetzen von Worten von dir als Bildhauer, die ist ja schon auch sehr besonders. Ich finde es auch toll, wenn du sagst: Ich setze die räumliche Wirkung von Worten ein.

Camill Leberer:

Das ist eine andere Form wieder wie ein Schriftsteller. Ich würde mich jetzt nicht als Literaten bezeichnen, sondern ich mache, ich schreibe auch Gedichte, ich mache Zeichnungen, ich mache Skulpturen. Ich mache große Sachen, ich mache kleine Sachen. In jedem unterschiedlichen Medium liegt die Möglichkeit etwas zu formulieren, was ich in dem anderen Medium nicht machen kann. Also, zum Beispiel, kann ich in Lackbildern eine Farbdifferenzierung möglich machen und damit eine Emotionalität erzeugen, die ich in der Skulptur nicht so machen kann.

Anna-Maria Ehrmann-Schindlbeck:

Ja, klar.

Camill Leberer:

Aber ich kann in den Skulpturen eine physische Präsenz herstellen, die ich in den Bildern so nicht herstellen kann. Also, das Haptische, das Anfassen, die Glaskante, die einen anschaut. In jedem Medium liegen unterschiedliche Formen und Möglichkeiten des Bildnerischen.

Anna-Maria Ehrmann-Schindlbeck:

Es ist immer auch so ein Moment der Hermetik eingeschlossen, etwas das sich öffnet, aber auch was sich verschließt.

Camill Leberer:

Also, das ist für mich auch mein Statement gegenüber gesellschaftlichen Phänomenen. Man trägt ja auch immer seine eigene Geschichte in die Wahrnehmung ein. Wahrnehmung ist niemals objektiv, das kann gar nicht sein. Selbst in Wissenschaften ist sie nicht objektiv. Je nachdem, welche Voraussetzung zur Beobachtung man aufgestellt hat. Danach, nach diesen Parametern entwickelt sich die Wahrnehmung. Und so ist es auch bei einer rein subjektiven Wahrnehmung. Unsere Wahrnehmungen sind sehr unterschiedlich.

Anna-Maria Ehrmann-Schindlbeck:

Sehr unterschiedlich.

Camill Leberer:

Und von daher ist es wichtig für mich, den Betrachter nicht einzuengen, sondern ihm die Möglichkeit zu geben, sich mit seiner eigenen Subjektivität in Beziehung zu dem Angebot, was ich ihm gebe, Bild, Zeichnung, Lesung, Skulptur, sich in Beziehung zu setzen. Und zwischenzeitlich weiß ich, zum Beispiel das Gelb, was es für eine bestimmte Wirkung hat. Es ist wie ein Signal: aha – Achtung!

Anna-Maria Ehrmann-Schindlbeck:

Es ist eine sehr vorspringende Farbe mit einer hohen Energie.

Camill Leberer:

Ja, genau, eine Farbe, die einen großen Energiegehalt hat und dann das Blau quasi als melancholischer Gegensatz zu einer eher euphorisierenden Gelbfarbe. Man macht etwas intuitiv, emotional. Man weiß es auch nicht genau, warum man es macht, aber man muss natürlich dann anschließend darüber nachdenken: Was habe ich eigentlich gemacht? Was bedeutet das eigentlich? Dass das von Anfang an nicht so geplant war, ist überhaupt keine Wertaussage dafür, ob das eine gewisse Tiefe hat. Das ist schon ein großer Unterschied. Ich glaube, man kommt an eine innere Tiefe nur durch intuitives Handeln und nicht durch Schulaufsätze oder Begrifflichkeiten, die man sich aneignet. Und das ist letztendlich der Kern dessen, der Kern meines Wunsches, in meine Tiefe und auch in die Tiefe des Betrachters zu kommen.

Film zur Ausstellung

Camill Leberer – Glashaut (26. Februar – 3. April 2022)

Präsentiert von: Galerie der Stadt Tuttlingen, 2022

Konzept und Interview: Anna-Maria Ehrmann-Schindlbeck

Kamera und Schnitt: Nadja Dosterschill

© VG Bild-Kunst für das Werk von Camill Leberer

© Galerie der Stadt Tuttlingen, 2022