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Redensammlung

Volkstrauertag 2021 – Sonntag, 14. November 2021 – 11.00 Uhr Ehrenfriedhof


Sehr geehrte Damen und Herren,

ich begrüße Sie herzlich zur Gedenkfeier zum Volkstrauertag. Ich freue mich besonders, Sie auch persönlich begrüßen zu dürfen – in Präsenz, wie man heutzutage sagt. Nachdem wir im letzten Jahr wohl zum ersten Mal nur einen rein virtuellen Volkstrauertag hatten, ist es umso schöner, sich heute wieder zu sehen – auch wenn wir mit Blick auf die wieder steigenden Inzidenzen auf das anschließende Beisammensein im Alten Krematorium verzichten werden.

Ich begrüße zur heutigen Gedenkfeier vor allem diejenigen, die diese mitgestalten werden. Sie alle leisten einen aktiven Beitrag dazu, dass dieser Gedenktag lebendig wird, dass er nicht zum Ritual erstarrt, dass er auch 76 Jahre nach Kriegsende Menschen anspricht.

Mein Dank gilt zunächst dem Ensemble des SBO, das uns bereits mit Dieterich Bonhoeffers wunderbarem Lied „Von guten Mächten“ begrüßt hat. Ich danke Ihnen, dass Sie schon seit vielen Jahren dieser Feier den würdigen Rahmen geben.

Ich begrüße einen weiteren Stammgast unserer Gedenkfeiern – Martin Brenndörfer vom Verband der Siebenbürger Sachsen. Wir werden im Anschluss die Flamme am Vertriebenendenkmal entzünden – und daran erinnern, dass Krieg immer auch mit dem Verlust von Heimat einhergeht. Ganz gleich, ob dies im oder nach dem Zweiten Weltkrieg der Fall war, oder ob dies heute so ist.

Ich freue mich besonders auf den Beitrag der Schülerinnen und Schüler der Hermann-Hesse-Schule unter der Leitung von Jennifer Schlesinger. Dass junge Menschen an dieser Feier teilnehmen, sie mitgestalten und sich so auch selber intensiv mit der Thematik befassen, finden ich einen der wichtigsten Aspekte des Volkstrauertags.

Mein besonderer Gruß gilt meinem Kollegen Emil Buschle. Er ist für ihn – wie er mir sagte – das 50. Mal, dass er einem Volks-trauertag teilnimmt. Meistens war dies in Mühlheim und Stetten. In diesem Jahr – und das war sein persönlicher Wunsch - spricht er erstmals hier in Tuttlingen die Gedenkrede. Ich freue mich auf Deinen Beitrag, lieber Emil!

Herzlich begrüße ich auch alle Vertreterinnen und Vertreter des Gemeinderates. Wir werden nachher gemeinsam den Toten gedenken und den Kranz niederlegen - ich freue mich, dass Sie hier sind.

Mein ganz besonderer Gruß gilt aber Ihnen allen, die auch ohne formelle Verpflichtung an diesem kühlen Novembervormittag auf den Ehrenfriedhof gekommen sind. Mit Ihrer Anwesenheit machen Sie den Volkstrauertag erst zu dem, was er sein soll: Ein Gedenken aus der Mitte der Bevölkerung heraus, ein Bekenntnis für Frieden, Aus-söhnung und Gerechtigkeit. Ich danke Ihnen!

Meine Damen und Herren,

erst vor wenigen Tagen war der 9. November - jener Tag, der wie kein anderer für die Höhe- und Tiefpunkte der deutschen Geschichte steht. Für den Fall der Berliner Mauer 1989 ebenso wie für die Pogromnacht 1938, die der endgültige Startschuss zum Völkermord an den europäischen Juden war.

In diesem Jahr mischen sich unter die vielen Stimmen des Gedenkens auch Töne, die unerträglich sind – und die wir schon seit Wochen und Monaten immer wieder hören müssen: Auf Demonstrationen, in Leserbriefen und im Internet. Immer wieder ist davon die Rede, dass man in Deutschland „jetzt fast schon wieder so weit sei“. So weit wie damals. Damals in der NS-Zeit. Wieder teile Menschen in Gruppen ein. Wieder grenze man ganze Gruppen aus. Wieder würden Minderheiten diskrimi-niert.

Es geht hier allerdings nicht um die Diskriminierung von Geflüchteten oder anderen Migranten. Es geht auch nicht darum, dass in Deutschland wieder jüdische Menschen Angst vor Übergriffen haben müssen. Es geht auch nicht darum, dass man es in Deutschland als Mensch mit dunkler Haut-farbe oder fremdländischem Namen schwerer hat, eine Wohnung oder einen Job zu finden.

Nein – es geht um die Corona-Maßnahmen. Es geht um die 3-G- oder 2-G-Regel. Und dass Ungeimpfte demnächst nicht mehr in die Kneipe oder ins Schwimmbad dürfen.

Wir erleben solche verheerenden Vergleiche leider schon seit Monaten. Wir erle-ben, dass Maßnahmen einer demokratisch gewählten Regierung gegen die Corona-Pandemie mit der Willkürherrschaft der Nationalsozialisten verglichen oder sogar gleichgesetzt werden. Dass unsere Demokratie als Diktatur und Unrechtssystem be-zeichnet wird, weil gerade einige unbe-queme Maßnahmen verhängt wurden.

Warum sage ich dies am heutigen Volkstrauertag? Ich sage dies, weil diese Bei-spiele auf erschreckende Weise deutlich machen, dass bei immer mehr Menschen das Bewusstsein für unsere Geschichte verloren geht. Dass immer mehr in Vergessenheit gerät, was Krieg und Diktatur wirklich bedeuteten – nämlich millionenfache Unterdrückung, millionenfaches Leiden, millionenfaches Sterben. Und mit je-dem dieser unsäglichen Vergleiche werden diejenigen verhöhnt, die echte Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft wurden. Und umso wichtiger ist es, die Erinnerung immer wieder wach zu halten – auch heute bei dieser Veranstaltung.

Meine Damen und Herren,
der Volkstrauertag als wichtigste Gedenk-veranstaltung unseres Landes ist so wich-tig wie eh und je. Er ist wichtig, um unseren Blick auf die Vergangenheit zu schärfen – und er ist wichtig, um die Gegenwart beurteilen zu können. Denn auch im Jahr 2021 können wir uns nicht zurücklehnen und uns damit beruhigen, dass der Zweite Weltkrieg lange zurückliegt und wir heute alle in einer friedlichen und heilen Welt leben. Denn sie ist es nicht.

Es ist müßig, Jahr für Jahr die Zahlen der aktuellen bewaffneten Konflikte auf dieser Welt zu verlesen – sie werden nicht weniger. Ebenso die Zahl der Menschen, die weltweit auf der Flucht sind.

Vielleicht sind ja manche fast schon froh an Corona. Die Pandemie lenkt ja so wun-derbar ab von den Konflikten überall auf der Welt. In Zeiten der Krise sind wir ja auch alle irgendwie Opfer – und da könnte man ja auch mal das Recht haben, die Augen vor dem zu verschließen, was anderswo passiert…

Nein – dieses Recht haben wir nicht. Nicht in einem der reichsten und sichersten Länder der Welt, in dem der Staat auch in Zeiten der Pandemie stets in der Lage war, die Existenz und das Überleben der Menschen zu sichern.

Das Augenverschließen, das Wegdrucken, hilft uns auch nicht weiter. Denn die nächs-ten Flüchtlingsströme sind schon auf dem Weg zu uns. Dieses Mal kommen sie zwar über Belarus und die Ostgrenzen – aber waren wir wirklich so naiv zu glauben, dass nach 2015 / 2016 alles vorbei sei?  In einer Welt, die seit damals kein bisschen besser geworden ist?

Meine Damen und Herren,
wenn wir am Volkstrauertag 2021 der Op-fer von Krieg, Gewalt und Vertreibung ge-denken, ist dies immer auch eine Verpflichtung für die Gegenwart. Es ist die Ver-pflichtung, gegen jede Form von Diktatur, Rassismus und Willkürherrschaft zu kämpfen – auch bereits in ihren Ansätzen. Ansätze, die wir in diesen Tagen immer wieder erleben müssen.

Und es ist eine Verpflichtung, unsere Verantwortung, Hilfsbereitschaft und Nächstenliebe auch denen gegenüber zu zeigen, denen es weitaus schlechter geht als uns – egal, ob sie als ehemalige Ortskräfte aus Afghanistan oder über die neuen Fluchtrouten im Osten zu uns kommen.

Gerade nach dem Zweiten Weltkrieg waren es Millionen Deutschstämmiger, die auf ungewissen Wegen zu uns kamen - viele von ihnen überlebten die Flucht nicht. Zu Ihrem Gedenken entzünden wir nun die Flamme am Vertriebenendenkmal.