Volkstrauertag 2023 – Sonntag, 19. November 2023 – 11.00 Uhr Ehrenfriedhof
Sehr geehrte Damen und Herren,
ich begrüße Sie herzlich zur Gedenkfeier zum Volkstrauertag. Bereits im letzten Jahr sagte ich bei dieser Gelegenheit, dass dieser Gedenktag so aktuell wie seit vielen Jahren nicht mehr ist. Leider ist er in diesem Jahr noch aktueller. Und leider kann nun niemand mehr – wie noch in früheren Jahren - die Frage stellen, wozu man noch einen Gedenktag gegen den Krieg, gegen Rassismus und Antisemitismus, für den Frieden und für Völkerverständigung braucht. Und mehr denn je freue ich mich heute über jeden einzelnen von Ihnen. Durch Ihre Anwesenheit zeigen Sie, dass es Ihnen vermutlich ähnlich geht wie mir, dass Sie die Ereignisse der letzten Tage und Wochen nicht ungerührt lassen. Ich danke Ihnen, dass Sie alle heute gekommen sind.
Mein Dank gilt zunächst dem SBO, das uns gerade mit dem Lied „So nimm denn meine Hände“ begrüßt hat. Wie jedes Jahr geben Sie dieser Gedenkstunde einen feierlichen und würdigen Rahmen.
Wie jedes Jahr darf ich auch heute Martin Brenndörfer vom Verband der Siebenbürger Sachsen begrüßen. Stellvertretend für alle Menschen, die durch Kriege ihre Heimat verloren haben oder gerade verlieren werden wir gemeinsam die Flamme am Vertriebenendenkmal entzünden.
Ich freue mich besonders auf den Beitrag der Schülerinnen und Schüler der Projekts „courAGge“ des IKG unter der Leitung von Julia Kneisel. Gerade die Beiträge unserer Schulen zeigen jedes Jahr, wie wichtig und zugleich anregend es ist, wenn sich junge Menschen mit der Thematik befassen.
Mein besonderer Gruß gilt unserem Stadtrat Joachim Klüppel. Er wird heute die Gedenkrede zum Volkstrauertag halten, bevor wir gemeinsam den Kranz in der Ehrenhalle niederlegen.
Herzlich begrüße ich auch die Vertreterinnen und Vertreter der Feuerwehr sowie mehrerer Vereine sowie zahlreiche Mitglieder unseres Gemeinderates. Ich freue mich, dass Sie hier sind.
Mein ganz besonderer Gruß gilt aber Ihnen allen, die auch gekommen sind, obwohl sie keine offiziellen Funktion wahrnehmen. Sie sind hier aus Interesse, aus einem inneren Bedürfnis – das freut mich besonders. Herzlich willkommen auf den Ehrenfriedhof! Sie sorgen dafür, dass dieser Volkstrauertag auch aus der Mitte der Bevölkerung herausgetragen wird, als Friedenssignal in unfriedlichen Zeiten. Herzlichen Dank!
Meine Damen und Herren,
wie oft standen wir nun schon gemeinsam hier, zwei Sonntage vor dem Ersten Advent. Wie oft gedachten wir schon gemeinsam der Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft, von Rassismus und Antisemitismus. Und wie oft wiegten wir uns dabei in der Sicherheit, dass wir an solchen Gedenkfeiern zwar in die Vergangenheit blicken, nach dem Ende der Feierstunde aber wieder zurück in unsere bessere und humanere Welt kehren. Dass wir nach dem Ende der Gedenkfeier die Gräuel der Vergangenheit ebenso zurücklassen wie das meist kalte und feuchte Wetter an diesen Novembersonntagen. Die Geschichte ist dann bestenfalls noch eine Mahnung, eine Lektion aus vergangenen Zeiten, die wir moderne Menschen uns immer wieder in Erinnerung rufen, um uns gleichzeitig unserer Friedfertigkeit, unserer Toleranz und Weltoffenheit zu vergewissern.
Das fiel uns immer sehr leicht – schließlich wurden wir ja nie vor die Herausforderung gestellt, unsere edlen Überzeugungen auch ganz praktisch oder gar unter Risiken unter Beweis stellten zu müssen.
Auch im letzten Jahr, als Putin die Ukraine überfiel, war es für uns zwar ein Schock, der Kanzler sprach sogar von einer Zeitenwende. Aber auch hier war es vergleichsweise einfach und bequem, sich auf die richtige Seite zu stellen: Man hängte blau-gelbe Fahnen auf, bekannte sich öffentlich zur Ukraine – und war wieder mal sicher, bei den Guten zu sein.
Diese Zeit ist jetzt vorbei. Genauer gesagt: Seit dem 7. Oktober 2023.
Was an diesem Tag passierte, war der größte Massenmord an jüdischen Menschen seit der Shoa. Es war ein Zivilisationsbruch, den wir nicht mehr für möglich gehalten hätten. Und ich
weiß nicht, wie es Ihnen geht: Seit dem 7. Oktober lassen mich die Ereignisse nicht mehr los – und sie lösen unterschiedliche Empfindungen aus:
Ich bin schockiert und entsetzt – darüber, mit welcher Kaltblütigkeit die Terroristen der Hamas ganze Familien abschlachteten, wie sie Jagd auf Zivilsten machten, wie sie Kleinkinder ermordeten oder ihren Eltern entrissen, wie sie junge Erwachsene kaltblütig erschossen, während sie gerade friedlich tanzten.
Ich bin ratlos – weil ich beim besten Willen keinen Weg sehe, wie in diesem Teil der Erde jemals Frieden herrschen soll. Jeder neue Konflikt provoziert neuen Hass – und jeder neue Tote legt die Saat für neue Gewalt.
Ich bin in Sorge – ganz persönlich um die Menschen, die wir 2018 bei unserer Begegnungsreise nach Shavei Zion kennen und treffen durften, Menschen wie Amos Fröhlich, der auf so besonnene Weise von Verständigung uns Aussöhnung sprach – und der jetzt in einem Teil Israels lebt, in dem ständig mit Raketenangriffen der Hisbollah gerechnet werden muss.
Ich bin aber auch in Sorge, dass dieser aktuelle Krieg die Gräben auf dieser Welt noch vertiefen wird. Wir erleben gerade, wie unsere Welt noch mehr als zuvor in zwei Blöcke zerfällt: Auf der einen Seite diejenigen, die schockiert darüber sind, dass wieder Massaker an Menschen verübt werden, nur weil sie Juden waren. Und auf der anderen Seite diejenigen, für die Morde der Hamas ein Nebenprodukt eines legitimen Freiheitskampfes waren. Wir spüren zusehends, dass die Länder des Nordens und des Westens und vor allem die muslimisch geprägten Staaten des Südens in zwei Welten leben, deren Wahrnehmungen nichts mehr miteinander zu tun haben. Und dieser Graben verläuft leider auch quer durch unsere Stadt.
Und bei all dem bin auch enttäuscht – maßlos enttäuscht. Von einigen der Islamverbände, die sonst stets – und auch zurecht - Toleranz einfordern, sich aber nicht oder nur sehr halbherzig distanzierten, als im Namen ihrer Religion die Gräuel in den Kibbuzim begangen wurden. Und ganz besonders von all den Leuten, die sonst zu jedem Unrecht auf der Welt ihre Stimme erheben. Von den Künstlern, Musikern, Literaten, Intellektuellen, die sonst immer bereit stehen für Solidaritätskonzerte, Demos, Lichterketten und Appelle. Nach dem 7. Oktober waren die meisten von ihnen still. Ohrenbetäubend still.
Und sie blieben auch still, als kurz darauf in Deutschland die ersten israelischen Fahnen brannten, die Wohnungen jüdischer Mitbürger beschmiert wurden und Brandsätze auf ein jüdisches Gemeindehaus geworfen wurden. Sie blieben sogar dann noch still, als immer mehr Jüdinnen und Juden berichteten, dass sie auf offener Straße beschimpft, bedroht und bespuckt werden.
„Nie wieder“ - 80 Jahre nach dem Holocaust drohen diese Worte zur hohlen Phrase zu werden - ausgerechnet in unserem Land, das immer so stolz darauf ist, aus der Geschichte gelernt zu haben.
Die Worte „Nie wieder“ werden aber zur Farce, wenn auf Demos in deutschen Großstädten ungehindert die Auslöschung Israels und die Errichtung eines Kalifats in Deutschland gefordert wird.
Sie werden zur wertlosen Worthülse, wenn immer noch ignoriert wird, dass Antisemitismus nicht nur von Rechts kommt sondern auch in vielen migrantischen Milieus weit verbreitet ist. Wenn man dieses Problem nicht nur verschweigt sondern bewusst verdrängt, weil es nicht in unser Bild einer friedlichen multikulturellen Gesellschaft passt.
Und sie wird zur peinlichen Floskel, wenn immer mehr in Deutschland lebende Juden schweren Herzens sagen, dass sie wieder den vielzitierten gepackten Koffer im Flur stehen haben.
Damit das vielbeschworene „Nie wieder“ aber nicht zur hohlen Phrase wird, sind in dieser Zeit Bekenntnisse wichtiger denn je. Auch an diesem Volkstrauertag – ein Gedenktag, der ja auch immer unter dem Motto des „Nie wieder“ steht. Wichtiger denn je ist es, Farbe zu bekennen und die Stimme zu erheben.
Deshalb war es mir auch wichtig, dass wir konsequent eine Demo untersagten, die mit sehr großer Wahrscheinlichkeit im Zeichen antisemitischer Hetze gestanden hätte. Wir werden es übrigens - wenn nötig - wieder tun. Und deshalb ist es mir auch wichtig, dass immer freitags die israelische Flagge vor unserem Rathaus weht. Als Zeichen der Verbundenheit.
Ich weiß, dass sich viele mit diesem Symbol schwer tun. Und dass viele immer wieder darauf verweisen, dass auch die israelische Regierung nicht frei von Schuld ist – womit sie ja recht haben. Mit dem Bau neuer Siedlungen in der Westbank und Provokationen auf dem Tempelberg gießt sie regelmäßig Öl ins Feuer. Das bestreitet niemand. Und mit Sorge und Trauer sehe ich auch die Entwicklung im Gaza-Streifen, die Gefahr einer humanitären Katastrophe und zahllose Opfer unter den Zivilisten. Ich die Gefahr, dass sich Israel – so wie die USA nach dem 11. September – in einen nicht mehr kontrollierbaren Rachefeldzug verstrickt, ist nicht von der Hand zu weisen.
All dies aber ist keine Rechtfertigung für Antisemitismus.
Denn genau das ist ja das Problem: Dass das Existenzrecht des Staates Israels und das Leben und die körperliche Unversehrtheit von jüdischen Menschen auf der ganzen Welt mit der Politik der aktuellen Regierung verknüpft wird.
Dass jüdische Menschen auf der ganzen Welt dafür zur Verantwortung gezogen werden, was die Politiker einzelner Parteien in Tel Aviv entscheiden.
Dass Terror gegen jüdische Zivilisten mit der Politik der israelischen Regierung nicht nur erklärt sondern sogar legitimiert wird.
Dass jüdische Menschen auf der ganzen Welt pauschal in Sippenhaft genommen werden.
Genau das ist die aktuelle Form des Antisemitismus, der sich seit Jahrtausenden wie ein giftiger roter Faden durch unsere Geschichte zieht.
Meine Damen und Herren,
als 1952 das erste Mal der Volkstrauertag gefeiert wurde, lagen der Zweite Weltkrieg und der Holocaust gerade mal sieben Jahre zurück. Unter dem Eindruck des noch frischen Grauens galt es, nicht nur der Opfer zu gedenken., sondern auch Lehren für die Zukunft zu ziehen. Und auch – wie wir es in diesen Tagen erleben müssen - für die Gegenwart. Eine Gegenwart, die voller Konflikte ist, und in der auf makabre Weise stets der gerade grausamste Krieg die anderen Gemetzel in den Schatten stellt.
Denn auch der Krieg in der Ukraine tobt weiter – und ein Ende ist nicht abzusehen. Auch hier geschieht nach wie vor Tag für Tag Unrecht, werden Leben ausgelöscht, Familien zerstört, Existenzen vernichtet. Und dazu kommen all die Kriege, die sich völlig außerhalb unserer Aufmerksamkeit abspielen, die aber nicht weniger grausam sind. Von derzeit 40 bewaffneten Konflikten spricht das Heidelberger Instituts für internationale Konfliktforschung.
Am Volkstrauertag 2023 gedenken wir der Opfer all dieser Kriege, wir gedenken aller Menschen, die unter Gewalt und Vertreibung leiden. Und es muss uns eine Verpflichtung sind, gegen jede Form von Diktatur, Rassismus, Antisemitismus und Willkürherrschaft zu kämpfen – auch wenn es Mut und Rückgrat erfordert, die Bereitschaft, Widerspruch oder gar Ablehnung zu ernten.
Aber eine bessere Gesellschaft bekamen wir noch nie umsonst – auch heute nicht. Aber der Kampf dafür ist es wert.
Meine Damen und Herren, jeder Krieg auf dieser Welt geht einher mit Flucht und Vertreibung. Auch unter uns leben viele Menschen, in deren Familiengeschichten Flucht und Vertreibung bis heute präsent sind. Im Gedenken und zum Gedenken an alle, die ihre Heimat verlassen mussten und müssen, entzünden wir nun die Flamme am Vertriebenendenkmal.
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