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Redensammlung

Volkstrauertag 2017 Sonntag, 19. November 2017 11 Uhr – Ehrenfriedhof


Sehr geehrte Damen und Herren,
 
zunächst ein herzlicher Dank an das Städtische Blasorchester unter der Leitung von Klaus Steckeler für die Einstimmung auf die diesjährige Feier zum Volkstrauertag. Wir hörten „Das ist der Tag des Herrn“ von Konradin Kreutzer.
 
Ich darf Sie im Namen der Stadt Tuttlingen herzlich zu dieser Feier begrüßen – zunächst einmal jene, ohne die diese Gedenkstunde nicht möglich wäre:
 
Die Musikerinnen und Musiker, die ihr den würdigen Rahmen geben
Die Schülerinnen und Schülern der Hermann-Hesse-Realschule und ihre Lehrerin Vanessa Morales, die mit ihrem Beitrag dafür sorgen werden, dass der Gedanke des Volkstrauertages auch an junge Menschen weiter gegeben wird
Und unserem heutigen Redner, der schon seit vielen Jahren einen Beitrag zur Feier des Volkstrauertages leistet, heute aber ganz besonders im Mittelpunkt steht: Martin Brenndörfer vom Verband der Siebenbürger Sachsen. Er wird die Erinnerung daran wach halten, dass Krieg immer auch mit Flucht und Vertreibung einher geht. 
Meine Damen und Herren,
 
vor gut einem halben Jahr – das Wetter war ähnlich freundlich wie heute - hatte ich gemeinsam mit einer Delegation unseres Gemeinderates ein denkwürdiges Erlebnis. Zusammen mit dem Bürgermeister und mehreren Stadträten aus unserer französischen Partnerstadt Draguignan besuchten wir gemeinsam Verdun.
Jener Ort, an dem während des Ersten Weltkrieges 300 Tage erbittert gekämpft wurde.
Jener Ort, an dem im Schnitt über 1000 Menschen pro Tag ihr Leben ließen.
Und vor allem jener Ort, der fast schon zum Symbol für die Sinnlosigkeit des Krieges wurde. Denn letztlich führten diese Kämpfe nur zu minimalen Landgewinnen, die bei weitem nicht kriegsentscheidend waren. 300 000 Menschen – die Bevölkerung einer mittleren Großstadt – starben für nichts.In Verdun gewann ich Eindrücke, die ich nicht vergessen werde:
Beim Blick über die endlosen Gräberfelder.
In der düsteren Halle des Beinhauses von Douaumont.
Und im Museum, in dem das Grauen wissenschaftlich korrekt dargestellt wird.Verdun konfrontiert einen auf drastische Art mit der grausamen Wahrheit, wie wenig im Krieg ein Menschenleben zählt – das, was doch das Höchste und Wichtigste für uns sein sollte.
Und man sieht, wie schnell Menschen auf Befehl alles über Bord werfen können, was man bis dahin als Grundlagen der Zivilisation, als Fundament europäischer Werte betrachtet hat.
Wir besuchten Verdun gemeinsam mit unseren Freunden aus Frankreich. Und das war uns allen wichtig: Wir wollen gemeinsam daran erinnern, wozu übersteigerter Nationalismus auch in Europa führen konnte – vor gerade einmal 100 Jahren. Und nur wenige Jahre später erneut – und noch grausamer.
Wir wollten erinnern – und vor allem auch mahnen. Denn wir erleben gerade, dass die Idee des vereinten Europas immer stärker an Anziehungskraft verliert.
EU-Kritiker gewinnen überall an Zulauf, streichen ausschließlich die negativen Aspekte Europas heraus – und helfen dabei auch gerne mit „alternativen Fakten“ nach
In mehreren Ländern Osteuropas entfernt man sich zusehends von den Werten die Europa eigentlich zu Grunde liegen
Und mit den Briten tritt eines der größten Länder komplett aus der EU ausDass uns das vereinte Europa die längst Epoche des Friedens bescherte, die unser Kontinent je erlebte, ist 72 Jahre nach Kriegsende fast vergessen.
Aus diesem Grund sollte der Volkstrauertag immer auch ein Europatag sein:
Ein Tag, der uns mahnt, nationale Egoismen zurückzustellen und dazu aufruft, das Gemeinsame zu suchen.
Ein Tag, der uns davor warnt, Ressentiments, Hass und Vorurteile gegenüber Menschen anderer Herkunft aufkommen zu lassen.Meine Damen und Herren,
der Volkstrauertag ist der Tag, an dem wir in dieser Form seit 1952 der Kriegstoten und Opfer der Gewaltherrschaft aller Nationen erinnern.
Er ist der Tag, an dem wir uns auch daran erinnern, dass die Welt seit dem Zweiten Weltkrieg nicht friedlicher geworden ist. Dass es allein im Jahr 2016 weltweit 226 gewaltsam ausgetragene Konflikte gab – so eine Untersuchung des Heidelberger Instituts für Internationale Konfliktforschung. 18 Auseinandersetzungen galten dabei als „Kriege der höchsten Eskalationsstufe“.
Die Folgen davon spüren wir auch in Deutschland. Dass das Flüchtlingsthema von den ersten Plätzen in der Tagesschau verdrängt wurde, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass nach wie vor hunderttausende von Menschen in unserem Land in einem mühevollen Prozess der Integration stehen, der lange noch nicht abgeschlossen ist. Und dass vor allem Millionen nach wie vor auf der Flucht sind – weltweit sind es nach jüngsten Schätzungen 65 Millionen. Wir sehen sie nur nicht mehr, weil sie nicht mehr zu uns kommen. Weil sie nicht mehr auf unseren Bahnhöfen eintreffen oder in unseren Turnhallen schlafen. Was an den Außengrenzen der EU passiert, ist für uns weit weg – vom Rest der Welt ganz zu schweigen.
 
Es gibt also genug Gründe, am heutigen Volktrauertag daran zu erinnern, was Kriege anrichten, welchen unschätzbaren Wert Frieden und Freiheit haben – und dass wir uns allen entgegen stellen müssen, die dies gefährden. Somit ist der Volkstrauertag auch ein Tag der Zivilcourage. 
Meine Damen und Herren,
über 72 Jahre sind seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs vergangen. Und während er für immer mehr Menschen in weite Ferne rückt und der hohe Wert des Friedens in Vergessenheit gerät, leben nach wie vor Menschen unter uns, die das Leid dieses Krieges selber erlebt haben. Menschen, die oft bis heute von Erinnerungen geplagt werden. Erinnerungen an das, was sie als Kinder damals erleben mussten. Bei meinen Besuchen bei Jubilare höre ich regelmäßig davon.
Zu den Menschen, die diese Erinnerungen bis heute haben, gehören auch viele Heimatvertriebene, die nach 1945 oft Hals über Kopf alles zurücklassen mussten. Sie erinnern uns bis heute daran, dass hinter jedem Krieg Millionen an Einzelschicksalen stehen. Und dass auch Menschen, die den Krieg äußerlich unbeschadet überstanden haben, seelische Wunden erlitten haben.
Die Siebenbürger  Sachsen waren einer der Volksgruppen, die nach 1945 ihre Heimat verlassen mussten. Stellvertretend für alle anderen Gruppen wird  nun Martin Brenndörfer vom Verband der Siebenbürger Sachsen die Flamme am Vertriebenendenkmal entzünden.