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Redensammlung

Verleihung des Ehrengeschenks „Kannitverstan“ an Roland Martin – 25. Juli 2017, 17 Uhr, Kleiner Saal der Stadthalle


Begrüßung und Würdigung
 
Sehr geehrte Damen und Herren,
lieber Roland Martin,
 
kurz vor der Sommerpause darf ich Sie zur wichtigsten Gemeinderatssitzung des Jahres begrüßen. Es handelt sich um eine öffentliche Festsitzung, und sie hat nur einen Tagesordnungspunkt:
 
„Verleihung des Ehrengeschenks „Kannitverstan“ der Stadt Tuttlingen an Herrn Roland Martin.“
 
Begrüßen möchte ich dazu zunächst einmal den Ehrengast selber: Roland Martin mit seiner lieben Frau Eva.
 
Roland Martin war bislang Gast bei allen Verleihungen des „Kannitverstan“ – schließlich ist das Geschenk sein Werk. Heute nun bekommt er es selber verliehen – und ich freue mich, dass so viele unserer Ehrengeschenkträger heute anwesend sind, um diesen besonderen Moment mitzuerleben.
 
Ich begrüße – in alphabetischer Reihenfolge -
 
Dr. Dieter Egle mit seiner Frau Hella
den Fraktionsvorsitzenden der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag Volker Kauder mit Dr. Elisabeth Kauder
meinen Vorgänger im Amt des Oberbürgermeisters Heinz-Jürgen Koloczek mit seiner Frau Hiltrud
Herbert Moser mit Yvette
Dr. Sybill Storz mit ihrem Sohn Karl-Christian
Prof. Michael Ungethüm mit seiner Frau Monika 
Ich begrüße weiter
 
unseren Landrat Stefan Bär
meine Kollegen Emil Buschle und Willi Kamm
sowie die zahlreich anwesenden Mitglieder unseres Gemeinderates. Sie haben sich ja auch einstimmig dafür ausgesprochen, Roland Martin diese besondere Ehrung zukommen zu lassen. 
Das Ehrengeschenk ist nicht die erste Würdigung, die Roland Martin von seiner Heimatstadt erfährt. Bereits 2007 erhielt er den Kulturpreis – übrigens war er der allererste, dem er verliehen wurde. Umso schöner ist es, dass heute drei weitere Kulturpreisträger unter uns sind. Ich begrüße
 
Udo Braitsch
Siegfried Burger
Günter Hermann 
Neben dem Kulturpreis sind der Sozial- und der Sportpreis wichtige städtische Ehrenpreise. Aus den Reihen der Sozialpreisträger begrüße ich
 
Dr. Frieder Böhme
Marianne Huegel
und die Vertreter

der ökumenischen Initiative Nachtlager
des Kinderschutzbundes
und des Frauenhausvereins 
Von unseren Sportpreisträgern begrüße ich Helmuth Pauli.
 
Roland Martin gehört zu den Künstlern, aus deren Werk sakrale Arbeiten nicht wegzudenken sind. Daher freue ich mich, dass auch Vertreter der Kirchen heute unter uns sind – und zwar
 
Dekan Matthias Koschar und Stadtpfarrer Richard Grotz für die katholische Kirche
Dekan Sebastian Berghaus für die evangelische Kirche 
Ich begrüße viele persönliche Freunde und Weggefährten von Roland Martin.
 
Stellvertretend für viele heißt ich willkommen  
Meine Kollegin aus Offenburg, Oberbürgermeisterin Edith Schreiner
unseren Alt-Landrat Hans Volle
sowie zahlreiche Künstlerfreunde, die sich heute zusammen mit ihrem Kollegen Roland Martin über dessen besondere Ehrung freuen 
Meine Damen und Herren,
 
erst in diesem Jahr erschien ein Buch, das jüngere Tuttlinger mit völlig unbekannten Details aus der Geschichte ihrer Stadt konfrontiert. Mit „jünger“ meine ich jetzt alle die schon einige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg auf die Welt kamen. Es ist zweite Buch von Volker Schäfer - auch ihn darf ich übrigens herzlich begrüßen -, das sich mit Tuttlinger Schulgeschichte und Schulgeschichten in der Nachkriegszeit befasst. Sein Titel: „Erlebt noch mal eure Schulzeit“
 
Ein Kapitel hat mich bei der Lektüre besonders beeindruckt. Es beschreibt die Geschichte eines jungen Tuttlingers, der 1944 zusammen mit seinen Freunden durch das Toilettenfenster der Schulturnhalle flieht. Das hört sich zunächst nach einem launig erzählten Pennälerstreich an, hatte aber einen äußerst ernsten Hintergrund. Die ganze Klasse soll dazu genötigt werden, in die SS einzutreten – eine Aussicht, der sich der junge Mann und seine Freunde nur durch eine unauffällige Flucht entziehen konnten. Vor dieser Episode war der junge Mann bereits Luftwaffenhelfer, später wurde er Fahnenjunker einer Flakdivision und kam in britische Gefangenschaft. Zwischendurch legte er schnell das Notabitur und ein paar Jahre später das reguläre Abitur ab. Dann begann er ein Jahr nach Kriegsende das Studium an einer renommierten Kunstschule – im Alter von gerade einmal 19 Jahren.
 
Der Name des jungen Mannes dürfte Ihnen allen bekannt sein: Es war Roland Martin. Und die Geschichte hat mich aus zweierlei Gründen sehr bewegt:
 
Zum einen zeigt sie, mit wie viel Herausforderungen, Gefahren und oft auch Schrecken junge Menschen in diesen Zeiten konfrontiert wurden, wie unberechenbar und von Zufällen geprägt die Lebenswege damals waren.
Und sie schlägt einen Bogen zu meiner ganz persönlichen ersten Begegnung mit dem Werk von Roland Martin: Der Mann, der unter großen Gefahren floh, um sich nicht an den Verbrechen der SS beteiligen zu müssen, schuf ein Werk, das an die Schrecken von Krieg und Diktatur erinnert. Und dieses Werk berührte mich als jungen Mann sehr. Und zwar schon lange, bevor Roland Martin mir persönlich ein Begriff war. Es war das Mahnmal für die Opfer der Kriege beim Rathaus meines Heimatortes Stetten am kalten Markt. Ein mächtiges Kreuz aus Bronze – aber in der Mitte zersplittert, wie ein Baum nach einem Blitzschlag. Es ist ein Werk, dessen Symbolik bis heute beeindruckt. 
Wenn man Roland Martins Biographie betrachtet, erkennt man einen jener Lebensläufe, wie sie für diese Generation so typisch sind: Es sind die Lebensgeschichten von Menschen, die schon sehr früh eine enorme Verantwortung übernehmen mussten, die Gefahren und Strapazen ausgesetzt waren, die wir uns in unserer heutigen so sicheren und durchorganisierten Welt gar nicht mehr vorstellen können. 
 
Gleichzeitig aber hatten sie auch das Glück, in einer Zeit der Aufbruchsstimmung jung zu sein. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatten sie die große Chance, an etwas ganz Neuem mitzuarbeiten, den Aufbau einer neuen und besseren Gesellschaft  von Beginn an mit zu gestalten. Roland Martin nutzte diese Chance. Und deshalb haben wir ihm bis heute viel zu verdanken.
 
Lassen Sie mich sein Leben in groben Zügen nachzeichnen. 1927 kam er in Tuttlingen zur Welt, sein Vater war Milchhändler und nach den bereits erwähnten Kriegserlebnissen führte sein Weg direkt an die Bernsteinschule. In Glatt bei Sulz erbrachten junge Künstler den Beweis, dass die moderne Kunst in Deutschland auch nach der Unterdrückung durch das NS-Regime  noch lebendig war. Im ersten Jahrgang dieser Schule war Roland Martin der Schüler mit der Nummer 13. Hans Ludwig Pfeiffer und Paul Kälberer waren seine Lehrer. Es folgte ein kurzer Abstecher an die Staatliche Akademie der Bildenden Künste in Freiburg, und seit 1952 ist Roland Martin als freier Bildhauer in Tuttlingen tätig.
 
Den Begriff des „freien Bildhauers“ nahm und nimmt er dabei in vielfacher Hinsicht wörtlich:
 
Er war immer frei von festen Verpflichtungen und Engagements, unterwarf sich nie den Zwängen, die man als Dozent oder Kulturbeauftragter hat – er lebte und arbeitete immer nur für seine Kunst und nach seinen eigenen Ideen – mit allen Chancen und Risiken.

Er nahm sich immer wieder die Freiheit heraus, seinen Stil radikal zu ändern: Seine abstrakten Reliefs oder kinetischen Werke der 1960er- und 1970er Jahre haben nur wenig mit den Figurationen gemein, für die er heute weit bekannt ist. Bei diesem Stilwechsel nahm er sich obendrein die Freiheit, entgegen allen künstlerischen Trends zu handeln: Gerade in den 1970er-Jahren, als gegenständliche Arbeiten fast schon tabuisiert waren, entstanden seine ersten Werke, bei denen der erkennbare Mensch im Mittelpunkt steht.
Wir sehen: Roland Martin ist frei im Denken. Das ist auch in Tuttlingen unüberseh- und unüberhörbar. Gerade bei ästhetischen Fragen meldet er sich deutlich zu Wort – vor allem, wenn er das Gefühl hat, dass etwas in die falsche Richtung laufen könnte. Das bekamen wir im Rathaus erst jüngst bei der Frage zu spüren, wie die Bänke der Fußgängerzone künftig aussehen sollen. 
Wenn wir Roland Martin heute nun mit der höchsten Auszeichnung ehren, die unsere Stadt zu vergeben hat, dann hat dies zwei zentrale Gründe.
 
Roland Martin ist ein Mensch, der das Leben in Tuttlingen auf vielfältige Weise bereichert hat. Am augenscheinlichsten ist das natürlich bei seinem Skulpturen. Sie gehören zum Stadtbild wie der Tuttlinger Hut, die Uberschen Quadrate - und die aufgestaute Donau. Knapp 40 Werke stehen in Tuttlingen – größtenteils im öffentlichen Raum oder allgemein zugänglichen Gebäuden. Prominent platzierte Arbeiten wie der Instrumentenmacher, das streitende Paar am Rathaus oder natürlich der große Kannitverstan bei der Kreissparkasse sind zu Ikonen unserer Stadt geworden.
 
Roland Martin ist aber nicht nur ein Künstler, der zufällig in Tuttlingen lebt und dessen Arbeiten in der Stadt zu sehen sind: Er war auch über Jahrzehnte ein Kulturvermittler, ein Mensch, der Kontakte aufbaute und das kulturelle Leben unserer Stadt bereicherte. In einer Stadt, die sich bis weit in die zweite Hälfte des 20.Jahrhunderts hinein nahezu ausschließlich über die Arbeit definierte, ist das eine ganz besondere Leistung.
 
Noch vor ein paar Jahrzehnten hätte vermutlich kein Mensch daran gedacht, dass Tuttlinger innerhalb der Region auch einmal als Kulturstadt bekannt sein würde. Dass dies heute so ist, wäre ohne die Pionierleistung von Menschen wie Roland Martin nicht möglich gewesen.
 
Schon in den 1950er-Jahren war Roland Martin Mitbegründer eines Jazzclubs. Dieser „Club d’or“ ist bis heute sagenumwoben, und intime Kenner der Szene behaupten bis heute, dass er einer der besten im südwestdeutschen Raum war.
 
Roland Martin gehörte auch zu den Begründern des Kunstrings. Und hier hinterließ er besonders deutliche Spuren. Aus dem Kunstring ging nämlich der heutige Kunstkreis hervor. Und ohne den Kunstkreis und seine Mitglieder hätte Tuttlingen vermutlich nie eine Galerie bekommen – zumindest nicht eine solche, die weit über die Grenzen der Stadt hinaus für ihr ambitioniertes Programm bekannt ist.
 
Hier wären wir beim zweiten Punkt, für den wir Roland Martin heute ehren. Denn er wirkt nicht nur in Tuttlingen, er war es auch, der Tuttlingens Ruf als Kulturstadt entscheidend mit befördert hat. Seine Arbeiten sind im ganzen Land zu sehen - allein in Baden-Württemberg sind  es rund 140. Hartwig E. Steiner – auch ihm ein herzlicher Gruß – hat sich ja vor einigen Jahren die verdienstvolle Arbeit gemacht, für seine wunderbare Werkdokumentation alle Arbeiten aufzusuchen, zu fotografieren und zu dokumentieren.
 
Er war sehr, sehr lange dafür unterwegs.
 
Dass Roland Martin zum künstlerischen Markenzeichen unserer Stadt wurde, ist kein Zufall. Denn seine Arbeiten stammen nicht nur aus Tuttlingen, aus seinem Atelier in der Daimlerstraße, sie stehen auch symbolisch für vieles, was Tuttlingen ausmacht:
 
Für Einfallsreichtum und Originalität, für Fleiß und Bescheidenheit - aber auch für Hochwertigkeit und Perfektion.
 
Und natürlich für die Begabung, wunderbare Dinge aus Metall zu schaffen.  
 
Tuttlingen hat Roland Martin viel zu verdanken. Heute, wenige Tage vor seinem 90. Geburtstag, ist es an der Zeit, etwas davon zurück zu geben.
 
Ich freue mich daher, dass ich Dir, lieber Roland Martin, heute das Ehrengeschenk Deiner Heimatstadt Tuttlingen überreichen darf  - Deinen Kannitverstan.
 
Schöpfer und Träger einer Auszeichnung in einer Person zu sein -  das schaffen nur wenige. Du gehörst dazu – herzlich Glückwunsch!