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Redensammlung

Verleihung des Sozialpreises an Herrn Dr. Friedrich Böhme - 18. September 2012
Rede von Oberbürgermeister Michael Beck


Sehr geehrte Damen,
zur Verleihung des Sozialpreises an Dr. Friedrich Böhme darf ich Sie herzlich begrüßen.
Beim Sozialpreis handelt es sich um einen der Ehrenpreise, die unsere Stadt vergibt. Ich begrüße daher frühere Geehrte, allen voran die Ehrengeschenkträger
- meinen Vorgänger im Amt des Oberbürgermeisters Heinz-Jürgen Koloczek
- Prof. Dr. Michael Ungethüm

Willkommen heiße ich die früheren Träger des Sozialpreises
- Marianne Huegel
- die Vertreter
 - des Kinderschutzbundes
 - der ökumenischen Initiative Nachtlager für Wohnungs-lose
 - und des Vereins Tuttila Abenteuerland

Ich begrüße

- meine Bürgermeisterkollegen Emil Buschle und Willi Kamm
- die Mitglieder des Gemeinderates, die einstimmig beschlossen haben, Dr. Friedrich Böhme diese Auszeichnung zu verleihen
- Sozialdezernenten Bernd Mager als Vertreter des Landkreises
- zahlreiche Verwandte, Freunde und Weggefährten von Dr. Friedrich Böhme

Ganz besonders begrüße ich natürlich die Person, die im Mittelpunkt des heutigen Abends steht: Dr. Friedrich Böhme zusammen mit seiner Ehefrau, Stadträtin Petra Schmidt-Böhme.

Sehr geehrter Herr Böhme,

irgendwann in Ihren jungen Jahren, es muss noch während Ihrer Schulzeit gewesen sein, haben Sie mal drei klare Absichten formuliert. Genauer gesagt: Es waren Absichtserklärungen, was Sie nie machen wollten: Nämlich

- niemals Medizin studieren
- schon gar nicht Nervenarzt werden
- und auf keinen Fall nach Tuttlingen zurückkehren.

Wir alle können froh sein, dass diese Absichtserklärungen schon bald Makulatur wurden. Denn sonst wären wir heute nicht hier. Wir wären nicht hier, um den Psychiater und vor allem sozial in Tuttlingen engagierten Menschen Dr. Friedrich Böhme zu ehren.

Die Ehrung fällt übrigens auch in ein Jubiläumsjahr: Denn 1987, also vor 25 Jahren, taten Sie das, was Sie einst ausgeschlossen hatten: Sie kehrten nach Tuttlingen zurück. Und dadurch setzten Sie eine Familientradition fort, die eng mit unserer Stadt verknüpft ist.

Bereits Ihr Vater, Dr. Rudolf Böhme, war in Tuttlingen als Psychiater tätig. Ihre Mutter war praktische Ärztin, und auch Ihr Großvater mütterlicherseits war Mediziner. Sie stammen also aus einer hochgradig medizin-affinen Familie – was sich ja nicht nur bei Ihnen, sondern auch bei mehreren Ihrer Geschwister niederschlug.

Sie selbst kamen 1946 in Pfullendorf zur Welt, aber schon kurz nach Ihrer Geburt zog die Familie nach Tuttlingen. Man kann Sie also guten Gewissens als Tuttlinger bezeichnen. Das Abitur absolvierten Sie dann im Internat in Urach – und nach dem Abitur begannen Sie dann – entgegen Ihrer früheren Absichtserklärung – das Medizin-studium in Freiburg. Während des Studiums liebäugelten Sie dann noch mit verschiedenen Fachrichtungen und entschlossen sich dann zur Facharztausbildung zum Psychiater in Bremen.

Diese Entscheidung war in verschiedener Hinsicht folgenreich: Denn in Bremen lernten Sie auch Ihre Frau Petra kennen, mit der Sie dann – nach einer längeren Südamerikareise – gemeinsam in den Süden zogen. Heidelberg und Sinsheim waren weitere Stationen – bis 1987 Ihr Vater einen Nachfolger für seine Praxis suchte. Dies veranlasste Sie dann, einen weiteren Grundsatz zu brechen – nämlich doch nach Tuttlingen zurück zu kehren.

Meine Damen und Herren,
sehr geehrter Herr Dr. Böhme,
wer sich für den Beruf des Psychiaters entscheidet, ist sich von Beginn an einer Tatsache bewusst:

Viele seiner Patienten sind anders als der Bevölkerungsdurchschnitt.

Sie haben Krankheitsbilder, die lange tabuisiert wurden – und auch heute oft noch werden.

Es sind Krankheiten, die bis heute noch einen anderen Stellenwert in der Gesellschaft haben als die klassischen körperlichen Beschwerden.

Und deshalb sind es Krankheiten, die Menschen oft zu Außenseitern werden lassen. Zu Menschen, die es schwer haben, ihren Platz in unserer Gesell-schaft zu finden.

Sie haben sich dafür entschieden, für diese Menschen da zu sein. Ihnen Hilfe zu geben und Ihnen mit Ihrer ganzen Fachkompetenz zur Seite zu stehen. Dieses Interesse für Menschen am Rande der Gesellschaft, so berichtet Ihre Frau, wuchs vor allem während Ihres Studiums. Und das ist kein Wunder: Wenn man in den Jahren um 1968 in einer Stadt wie Freiburg studierte, war es fast unmöglich, sich sozialen und gesellschaftlichen  Diskussionen zu entziehen.

In dieser Hinsicht sind Sie ein klassi-scher 68er. Doch im Gegensatz zu vielen anderen redeten Sie nicht nur. Sie beschlossen auch zu handeln. Im Interesse der Menschen, die dringend eine Lobby brauchten. Und bis heute brauchen.

Grundlage Ihres Handels waren und sind dabei mehrere Überzeugungen:

- Ein Patient, vor allem ein psychisch kranker, braucht einen Arzt, der sich mit ihm solidarisch erklärt – und nicht nur jemanden, der die regelmäßige Medikamenteneinnahme verordnet.
- Psychische Krankheiten sind nicht nur die Folge medizinischer sondern vor allem sozialer Prozesse. Folglich kann die Krankheit nur behandelt werden, wenn man sich auch einge-hend mit sozialen Bezügen befasst.
- Die Psychiatrie darf sich nicht vor der Öffentlichkeit verschließen. Sie muss in der Gesellschaft präsent sein – nur so kann die Gesellschaft auch Verständnis für die Patienten aufbauen.

Diese Überzeugungen prägen bis heute ihr berufliches Engagement. Sie sind ein Arzt, der zu den Menschen nach Hause kommt. Sie sind ein Arzt, den man auch lange nach den üblichen Praxiszeiten anrufen darf. Und in dessen Praxis oft sehr lange noch Licht brennt – als direkter Nachbar von ge-genüber spreche ich hier aus langjähriger eigener Anschauung.

Ihre beruflichen Überzeugungen finden im Ehrenamt ihre Fortsetzung. In Tuttlingen fanden Sie dafür ein ideales Be-tätigungsfeld, und den Grundstock dazu hatte Ihr Vater gelegt. Er hatte im Jahr 1982 den Psychosozialen Förderkreis gegründet – zusammen mit dem damaligen Sozialdezernenten des Landkreises, einem Mann, der heute in der Bundespolitik an vorderster Reihe steht: Volker Kauder.

Ihr Vater und Volker Kauder waren sich damals einig: Für Menschen mit chronischen psychischen Erkrankungen muss ein Angebot geschaffen werden, das über die reine Betreuung hinaus geht. Für diese Menschen muss es Beschäftigungsmöglichkeiten geben, Aufgaben, die dem Tag eine Struktur geben.

Ein erster Schritt dorthin war der zwei Jahre vor dem Förderkreis gegründete Club 80: Ein Treffpunkt, um sich aus-zutauschen, zusammen zu kochen, zu essen und auch zu arbeiten. Er richtet sich vor allem an Menschen mit Psychosen – und existiert bis heute. Unzähligen Menschen hat er geholfen. Stellvertretend hierfür sei eine unbekannte Clubbesucherin zitiert. „Der Club hat mir in all den Jahren ein Stück Lebenshoffnung gegeben.“

Als Sie nach Tuttlingen kamen, fanden Sie im Psychosozialen Förderkreis und dem Club 80 ein ideales Betätigungsfeld: Bei der Facharztausbildung in Bremen hatten sie die neuesten Erkenntnisse und Trends der Psychiatrie kennen gelernt, hier konnten Sie sie in die Tat umsetzen. Vor allem aber bauten Sie um den Club herum ein ganzes Netzwerk an Angeboten und Einrichtungen auf. Denn eines war Ihnen immer wichtig: Wer Menschen mit psychischen Erkrankungen wirklich helfen will, darf kein Einzelkämpfer sein. Er braucht ein Netzwerk aus Medizinern, Sozialpädagogen, Krankenschwestern und engagierten Ehrenamtlichen.

Sie haben dafür gesorgt, dass rund um  den Psychosozialen Förderkreis ein solches Netzwerk wachsen und gedeihen konnte. Und heute gibt es neben dem Club 80

  • das ambulante betreute Wohnen
  • das betreute Einzelwohnen
  • das Café Zeit im Krankenhaus
  • das PIT-Patenschaftsprogramm für Kinder psychisch kranker Eltern
  • die Kooperationsprojekte mit dem Weltladen und dem Diakonielädele
  • und noch einiges mehr

Darüber hinaus gibt es eine enge Zusammenarbeit mit dem Sozialpsychiatrischen Dienst des Landkreises, der Lebenshilfe Tuttlingen, der Diakonie und der Caritas.

Auf all diese Weise haben Sie zweierlei bewegt:

- Sie haben erheblich dazu beigetragen, dass Menschen mit psychischen Krankheiten heute in Stadt und Landkreis Tuttlingen ein umfangreiches und professionelles Angebot vorfinden.
- Und Sie haben durch Ihre Arbeit mit dafür gesorgt, dass die Probleme psychisch kranker Menschen heute eine andere Beachtung finden als noch vor einigen Jahrzehnten. Sie haben Ihren ganz persönlichen Beitrag zur Enttabuisierung geleistet.

All dies braucht unendlich viel Kraft und Motivation. Und diese Motivation entnehmen Sie aus der Wertschät-zung, die Sie allen Menschen entgegen bringen – auch solchen, die es einem oft schwer machen. Sie sind evangelischer Christ und Menschenfreund – und Sie verbinden diese Empathie mit der gesellschaftlichen und politischen Überzeugung, dass eine Gesellschaft auch auf Ihre weniger starken Mitglieder da sein muss. Und Sie investieren in diese Arbeit viel Kraft und Zeit.

Ihr Engagement für die Menschen in dieser Stadt ist aber auch ein Enga-gement für diese Stadt. Denn Tuttlin-gen, das merkt man immer wieder, liegt Ihnen am Herzen. Sie machen sich viel Gedanken über die Stadt, in der Sie aufwuchsen und in die Sie zurückkehrten. Sie mischen sich ein – zum Beispiel bei Fragen des Städtebaus – und halten dabei auch mit Ihrer Meinung nicht hinterm Berg. Sich in Diskussionen zu Wort melden, ist für Sie so selbstverständlich wie Ihr sozia-ler Einsatz für die Menschen.

Für dieses ebenso facettenreiche wie langjährige Engagement erhalten Sie heute den Sozialpreis der Stadt Tuttlingen.

Die Urkunde trägt folgenden Text:

Das soziale Leben unserer Stadt ist auf Menschen angewiesen, die sich in besonderer Weise für ihre Mitmenschen einsetzen. Sie sind es, die die  sozialen Netzwerke in unserer Stadt pflegen und so in besonderer Weise zur Lebensqualität in Tuttlingen beitragen. Die Stadt Tuttlingen fördert daher soziales Engagement und zeichnet besondere Verdienste aus.  In Anerkennung seines Einsatzes im sozialen Bereich ehrt die Stadt Tuttlingen  DR. FRIEDRICH BÖHME  mit dem  SOZIALPREIS  Tuttlingen, den 18. September 2012
Der Sozialpreis selber besteht aus einem Kunstwerk, einer Arbeit von Hans-Uwe Hähn, dem Leiter unserer Jugendkunstschule. Ich bin sicher, Sie werden einen passenden Platz dafür finden.