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Redensammlung

Volkstrauertag 2010 - 14. November 2010


Sehr geehrte Damen und Herren,

„Es ist bestimmt in Gottes Rat“ – mit diesem Lied leitete soeben das städtische Blasorchester unter der Leitung von Klaus Steckeler die Gedenkfeier der Stadt Tuttlingen zum Volkstrauertag 2010 ein. Und im Namen der Stadt Tuttlingen begrüße ich alle, die heute morgen den Weg auf den Ehrenfriedhof gefunden haben. Besonders begrüßen möchte ich freilich diejenigen, die diese Gedenkfeier mitgestalten werden:

  • Die Musikerinnen und Musiker des Städtischen Blasorchesters. Sie werden noch mit weiteren Musikstücken unserer Gedenkfeier den würdigen Rahmen verleihen.
  • Herrn Martin Brenndörfer von der Landsmannschaft der Siebenbürger Sachsen, der heute stellvertretend für die verschiedenen Landsmannschaften der Vertriebenen die Gedenkflamme entzündet. Er wird uns daran erinnern, dass der Krieg auch mit der millionenfachen Vertreibung verbunden war.
  • Herrn Pastoralreferent Matthias Gärtner. Ich freue mich, dass er dieser eigentlich ja weltlichen Feier auch einen geistlichen Aspekt geben wird.
  • Die Schülerin Melina Schlenker. Denn es ist wichtig, dass auch die lange nach dem Krieg geborenen Generationen nicht vergessen, was in den Kriegen des vorigen Jahrhunderts passiert ist.
  • Die Fahnenabordnungen der Feuerwehr Tuttlingen, der Chorgemeinschaft Tuttlingen und der Schützengesellschaft Schönblick. Ebenso begrüße ich die Vertreter des DRK, das sich im übrigen auch in diesem Jahr wieder bei der Sammlung des Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge engagiert.
  • Und ich begrüße die Vertreter der Gemeinderatsfraktionen und alle Bürgerinnen und Bürger. Ich bin froh, dass Sie gekommen sind, um zu gedenken. Gekommen, um an dieser Gedenkstunde gegen Krieg und Gewalt, gegen Intoleranz und Rassenhass teilzunehmen.

Unsere Feier beginnt nun mit dem feierlichen Entzünden der Flamme am Vertriebenendenkmal – einer Flamme, die uns Mahnung sein soll. Einer Flamme gegen das Vergessen.


Sehr geehrte Damen und Herren,

wenn wir in diesem Herbst 2010 von Krieg, Kriegsopfern und Gefallenen sprechen, hat dies eine besondere Aktualität. Es ist eine Aktualität, wie sie vor wenigen Jahren noch undenkbar gewesen wäre. Wer hätte kurz vor der Jahrtausendwende gedacht, dass man im Fernsehen regelmäßig Bilder von Trauerfeiern für deutsche Soldaten sieht? Dass Zeitungen darüber berichten, wie Angehörige von Gefallenen mit dem Verlust umgehen? Und dass ein Einsatz der Bundeswehr zu zivilen Opfern führt und eine Diskussion darüber entfacht, ob die Mittel angemessen waren oder nicht?

Für alle, die unmittelbar davon betroffen sind, ist es gleichgültig, ob wir von einem Krieg oder einem bewaffneten Konflikt reden. Tatsache ist: In Afghanistan wird gekämpft. Deutsche Soldaten sind in diesem Konflikt mit dabei – und das mit allen dazu gehörenden Konsequenzen. Und es sind Konsequenzen, mit de-nen unsere Gesellschaft erst lernen muss, umzugehen.

Der heutige Volkstrauertag ist der Tag, an dem wir uns darüber Gedanken machen sollten. Denn er ist schon lange mehr als ein Gedenktag für die Opfer der vergangenen Kriege. Er ist erst recht kein verklärender Heldengedenktag mehr. Nein, der Volkstrauertag heute ist ein Tag, der zur Reflexion mit der Gegenwart anregen soll. Zur Reflexion über unseren Umgang mit Krieg und Gewalt. Und zur Reflexion über die Gründe von Konflikten, die irgendwann in Gewalt ausarten können. Und diese Gründe können die vielschichtigsten sein.

Meine Damen und Herren,

lassen Sie mich daher einige Überlegungen anstellen.

Als die Bundeswehr ihren Einsatz in Afghanistan begann, waren sich vermutlich die meisten Menschen in diesem Land einig: Ein verbrecherisches Regime wie das der Taliban lässt sich leider nicht mit friedlichen Mitteln beseitigen. In unserer Gesellschaft herrschte daher ein breiter Konsens, der bereits im Jugoslawien-Krieg gewachsen war: Wer die Augen vor dem Unrecht verschließt, macht sich mitschul-dig – auch wenn er sich auf dem ersten Blick nicht die Finger schmutzig macht. Dazu kamen die noch frischen Eindrücke des 11. September 2001 – und die schmerzliche Erkenntnis, dass vom internationalen Terror eine größere Gefahr ausgeht, als man bisher angenommen hatte.

All dies trug dazu bei, dass dieser bislang größte Kampfeinsatz der Bundeswehr von ei-ner breiten Unterstützung getragen war. Allerdings machten sich wohl die meisten nicht klar, was dieser Einsatz auch bedeuten kann: Tote – und zwar sowohl auf Seiten der deutschen Soldaten als auch der afghanischen Zivilbevölkerung. Oder man wollte es sich nicht klar machen, hoffte, dass es schon irgendwie funktio-nieren würde. Wir sind mit eigentlich blauäugig in diesen Konflikt hineingegangen – und wundern uns jetzt, wenn die populistische Forderung nach einem sofortigen Truppenabzug immer mehr Anhänger findet. Auch wenn ein solcher die Probleme in Afghanistan garantiert nicht lösen würde. Oder mehr noch: Sie wohl deutlich verschlimmern würde.

Ich gebe zu – mit dieser theoretischen Betrachtung können wir es uns in Tuttlingen noch leicht tun. Denn bisher hat unsere Stadt keine Opfer aus diesem Konflikt beklagen müssen. Darüber können wir froh sein. Aber wir müssen auch im Bewusstsein leben, dass sich dies jederzeit ändern kann. In anderen Städten wurden bereits die Namen der Toten aus Afghanistan auf die alten Denkmäler gemeißelt, die bisher nur an die Toten des Ersten und des Zwei-ten Weltkriegs erinnert haben. Wie würden wir in Tuttlingen mit so einer Situation umgehen? Ich weiß nicht, wie es die Bevölkerung unserer Stadt aufnehmen würde, wenn ein junger Mann aus ihrer Mitte plötzlich nicht mehr da wäre – getötet bei einem Sprengstoffanschlag, irgendwo in Afghanistan.

Meine Damen und Herren,

unabhängig von dieser aktuellen Thematik ist der Volkstrauertag aber immer auch ein Tag, an dem wir uns Gedanken über das “Warum“ machen sollten? Warum entstehen Kriege? Wie kommt es, dass Menschen, die lange in Frieden und Nachbarschaft miteinander lebten, zu Todfeinden werden? Warum ist die Menschheit nicht in der Lage, aus diesen Katastrophen zu lernen?

Vor allem die beiden Weltkriege des vergange-nen Jahrhunderts sind für mich ein Musterbeispiel für die Unbelehrbarkeit der Menschen: „Nie wieder Krieg“ war die einhellige Meinung im Herbst 1918. Doch in Deutschland vergingen nicht einmal 15 Jahre, bis die Mehrheit ei-ner Regierung an die Macht verhalf, die genau das Gegenteil proklamierte. Und 21 Jahre nach Kriegsende begann der nächste Weltkrieg. Keine Generation lag zwischen diesen Konflikten – Konflikten, die für das Leben von Millionen von Menschen zur ganz persönlichen Katastrophe wurde. Und es sind Katastrophen, die bis heute nachwirken. Bei meinen Besuchen bei Altersjubilaren merke ich regelmäßig, wie nah der Krieg und das damit verbundene Leid den Menschen dieser Generation bis heute sind.

Für mich sind solche Gespräch daher immer auch Mahnung: Die Mahnung, gegen all das zu kämpfen, was Kriege begünstigt: Gegen Hass und religiösen Fanatismus, aber auch gegen Ungerechtigkeiten und allzu große soziale Unterschiede.

Umso erschreckender ist es für mich, dass auch tot geglaubte Ideologien immer wieder auftauchen: Ideologien, die ihre Unfähigkeit zur Problemlösung bewiesen haben und an deren Gefährlichkeit und Menschenverachtung eigentlich auch niemand zweifeln dürfte.

Dass nicht nur im Osten die Zahl derer wieder zunimmt, die die DDR als eigentlich nicht so schlecht betrachten, ist das eine Beispiel für eine solche Unbelehrbarkeit. Das andere ist, dass Rechtsextreme zusehends versuchen, sich einen Platz dort zu erschleichen, wo sie beim besten Willen nichts verloren haben: Nämlich in der Mitte unserer Gesellschaft. Für mich war es daher ein Schock, als die NPD vor ein paar Wochen verkündete, dass sie sich in Tuttlingen niederlassen möchte. Gleichzeitig hatte diese unerfreuliche Geschichte aber auch einen sehr positiven Aspekt: Dass alle demokratischen Kräfte unserer Stadt und viele, viele Bürgerinnen und Bürger sich klar dagegen stellten, war für mich ein wunderbares Zeichen: Ein Zeichen dafür, dass unsere Demokratie wehrhafter ist, als wir manchmal denken.

An diesen Grundkonsens aller Demokraten sollten wir gelegentlich denken, wenn wir uns über die Probleme demokratischer Prozesse aufregen: Die einen regen sich über die vermeintliche Sturheit oder Selbstherrlichkeit der demokratisch Gewählten auf. Und die anderen über die zeitraubenden Konflikte mit Bürgern, die nicht jeden parlamentarischen Beschluss ohne weiteres akzeptieren wollen.

Meine Damen und Herren,

ein klares Bekenntnis zur Demokratie gehört daher für mich auch zu einem Tag wie dem heutigen Volkstrauertag. Doch er ist natürlich mehr. Er ist der zentrale Gedenktag für alle Opfer von Krieg, Terror, Gewalt und Diktatur. Und er kennt keine Hierarchie der Opfer.

Wir gedenken heute der Soldaten, die in all den Kriegen starben – sei es im Kampf oder an den Bedingungen der Gefangenschaft. Und wir denken an die Bundeswehrsoldaten oder anderen Einsatzkräfte, die bei Auslandseinsätzen ihr Leben verloren.

Wir denken an alle zivilen Opfer dieser Kriege – Menschen, die nichts getan hatten, außer dass sie an einem Ort lebten, arbeiteten oder sich gerade aufhielten, der zum Kriegsort wurde.

Wir denken an alle Menschen, die wegen ihrer Nationalität, ihrer Rasse, ihrer Religion, ihrer Lebensweise oder wegen einer Krankheit oder Behinderung als minderwertig bezeichnet und ermordet wurden.

Wir gedenken all derer, die wegen ihrer politischen Überzeugung verfolgt, eingesperrt gefoltert und getötet wurden.

Wir denken an alle Opfer von Terrorismus und Bürgerkriegen.

Und wir erinnern uns an alle Menschen, die als Folge von Flucht und Vertreibung ihre Heimat verloren haben.

In unser Gedenken schließen wir auch alle mit ein, die unter dem Tod ihrer Angehörigen litten oder bis heute leiden – die Ehepartner, Eltern, Kinder oder Freunde, die von heute auf morgen auf einen lieben Menschen verzichten mussten, der Opfer eines so sinnlosen wie gewaltsamen Todes geworden war.

Und ihr Tod ist uns Mahnung. Mahnung gegen Hass und Intoleranz, gegen Rassismus, Extremismus und Fanatismus, gegen jede Form von Gewalt.

Meine Damen und Herren,

lassen Sie uns nun im Gedenken an diese Menschen den Kranz niederlegen.