Fünf Stolpersteine verlegt – OB Beck: „Sie lebten unter uns und verschwanden plötzlich“
14.11.2018
Fünf weitere Stolpersteine wurden am Mittwoch in Tuttlingen verlegt. Die Stadt Tuttlingen erinnert damit an drei Menschen mit Behinderungen und einen Kriegsgefangengen, die während der NS-Diktatur ermordet wurden sowie einen politischen Gefangenen aus dieser Zeit.
Stolpersteinverlegung: Gunter Demnig mit OB Michael Beck. Unterstützt wurde er von Oliver Bonstein.
Das Wohngebiet wirkt unscheinbar. Kleine Ein- und Zweifamilienhäuschen aus den 1920er-Jahren, daneben eine Baustelle, auf der die Tuttlinger Wohnbau gerade einen Neubau errichtet. Dass sich hier auf engstem Raum gleich vier Tragödien abspielten, kann man sich heute nicht mehr vorstellen.
Doch die Opfer lebten quasi Tür an Tür: In der Goethestraße 11 wohnte Erwin Huber – er wurde als „Schizophrener“ am 3. Februar 1940 in der Heilanstalt Grafeneck ermordet. Schräg ums Eck Auf dem Schafrain 10 lebte Eugen Birkle – der Kriegsversehrte kam am gleichen Tag wie Huber nach Grafeneck und wurde ebenfalls ermordet. Direkt gegenüber, Auf dem Schafrain 19, war die Wohnung von Karl-Josef Zepf. Ihn brachten die Nazis am 18. Juni 1940 in Grafeneck um. Und direkt nebendran wohnte der Kommunist Emil Gerach. Er wurde von einem Kollegen denunziert und dann verhaftet. Er kam wieder frei, war aber – wie seine Familie berichtete - nie wieder der Alte. „All diese Menschen lebten mitten unter uns und sind einfach verschwunden“, sagte OB Michael Beck. „Da soll keiner sagen, er habe nichts gewusst.“
Das galt auch für das fünfte Opfer, das am Mittwoch gewürdigt wurde. Sein letzter Wohnort war etwas außerhalb – auf dem Äußeren Talhof. Hier lebte der polnische Zwangsarbeiter Boleslaw Prochazka. Nach einem Fluchtversuch wurde er erhängt.
Die Stolperstein-Verlegung vom Mittwoch war die dritte in Tuttlingen, mittlerweile erinnern an 15 Standorten Gedenksteine an NS-Opfer aus Tuttlingen. „Das sind Themen, die uns berühren müssen“, so OB Beck am Mittwoch, „und ich bin froh, dass wir hier auch im Gemeinderat einer Meinung sind.“
Schülerinnen und Schüler des OHG trugen bei der Verlegung die Lebensläufe der Opfer vor. Mit getragenen Saxophon-Klängen verlieh Volker Wagner der Feier den würdigen Rahmen.
Die Biographien
Eugen Birkle wurde 1884 geboren, diente im Ersten Weltkrieg und wurde wiederholt verletzt. Heimgekehrt arbeitete er in verschiedenen Tuttlinger Schuhfabriken als Maschinenzwicker. Die Erinnerungen an den Krieg ließen ihn jedoch nicht mehr los, so dass er ab August 1928 nicht mehr arbeiten konnte. Im Dezember 1929 ordnete der Amtsarzt die Unterbringung in einer Psychiatrie an, woraufhin er in die Heilanstalt Zwiefalten gebracht wurde. 1932 wurde er nach Rottweil in die Heilanstalt Rottenmünster überführt, wo er bis 1940 blieb. Von Rottenmünster brachte ihn einer der berüchtigten grauen Busse der SS nach Grafeneck, wo er am 3. Februar 1940 ermordet wurde.
Im gleichen Bus saß auch sein Nachbar Erwin Huber, der in der Goethestraße 11 wohnte. Er wurde 1903 geboren. Spätestens 1924 erkrankte er an „Schizophrenie“. Diese Krankheitsbezeichnung wurde damals für fast alle psychischen Störungen verwendet und sagt wenig über das Krankheitsbild aus. Über seine genaue Erkrankung ist nichts bekannt. Am 3. Februar 1940 brachte die SS ihn von der Heilanstalt Rottenmünster nach Grafeneck, wo er noch am gleichen Tag ermordet wurde.
Emil Gerach (Auf dem Schafrain 17) war überzeugter Kommunist, warb auch in der Zeit des Nationalsozialismus für seine politischen Ideen und geriet dabei an den Falschen. Er wurde denunziert, verraten, angeklagt, verurteilt und verbüßte eine mehr als zwei Jahre dauernde Strafe im Gefängnis Brandenburg-Görden. Während der Verhandlung musste er erkennen, dass sein vermeintlicher Freund Hugo Dieterle als Informant für die Gestapo gedient hatte. Nach dem Krieg wurde das Urteil aufgehoben.
Was Karl Josef Zepf, der im Gebäude Auf dem Schafrain 19 wohnte, aus der Bahn geworfen hat, weiß man bis heute nicht. Er galt als intelligenter Mann und lernte wie sein Vater den Beruf des Instrumentenmachers. 1931 wurde er arbeitslos und bald zeigten sich die ersten Krankheitssymptome, sodass er 1933 erstmals in die Heilanstalt Rottenmünster aufgenommen wurde. 1936 wurde er dauerhaft in die Heilanstalt Zwiefalten und später nach Schussenried verlegt. Am 18. Juni 1940 brachte einer der grauen Busse der SS ihn nach Grafeneck, wo er auch gleich getötet wurde.
Der Zwangsarbeiter Boleslaw Prochazka wurde 1940 im Alter von 16 Jahren verhaftet und nach Deutschland deportiert. Zunächst war er dem Wurmlinger Landwirt Josef Zepf als Zwangsarbeiter zugewiesen, konnte aber im Dezember 1940 fliehen. Bei Nürnberg wurde er aufgegriffen und im September 1941 nach Tuttlingen zurück überstellt. Im Januar 1944 floh er in die Schweiz, wurde in Schaffhausen aufgegriffen und ins Auffanglager Ringlikon und dann ins Arbeitslager für Internierte in Bürten Reigoldswil überstellt. Im Mai floh er Richtung Deutschland, denn er wollte seine Braut und einen Freund ebenfalls retten. Bei einem erneuten Grenzübertritt wurde er dann verhaftet. Boleslaw Prochazka wurde am 28. August 1944 um 18.20 Uhr unter der Leitung der Gestapo durch zwei Häftlinge erhängt.
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