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Volkstrauertag 2016 - Sonntag, 13. November 2016


Sehr geehrte Damen und Herren,
zur diesjährigen Feier aus Anlass des Volkstrauertages darf ich Sie herzlich begrüßen.

Ein herzlicher Gruß gilt zunächst denen, die schon seit vielen Jahren diese Gedenkfeier musikalisch umrahmen und uns auch in diesem Jahr wieder passend eingestimmt haben: Das Städtische Blasorchester unter Klaus Steckeler. Wir hörten soeben Konradin Kreutzers „Das ist der Tag des Herren“.

Herzlich begrüßen darf ich auch Martin Brenndörfer von der Landsmannschaft der Siebenbürger Sachsen. Er wird im Anschluss daran erinnern, dass Krieg immer auch mit dem Verlust  von Heimat und Geborgenheit einhergeht – in den Jahren des Zweiten Weltkriegs ebenso wie in unseren Tagen.

Willkommen heiße ich auch die Schülerinnen und Schüler der Hermann-Hesse-Realschule und ihre Lehrerin Sabine Hagedorn. Ich bin froh, dass die Jugendlichen hier sind – schließlich ist es ihre Generation, für die wir den Frieden erhalten müssen, den wir seit über 70 Jahren in Europa genießen dürfen. Für ihren Beitrag bedanke ich mich bereits jetzt im Voraus.

Ein besonderer Gruß gilt Dr. Frieder Böhme. Unser Sozialpreisträger wird heute die Gedenkrede halten. Schließlich ist es seit Jahren guter Brauch, dass bei diesem Anlass Redner aus Politik, Kirchen oder Verbänden ihre ganz persönlichen Gedanken und Anstöße zu diesem wichtigen Thema geben – Herr Dr. Böhme, ich freue mich schon jetzt auf Ihren Beitrag.

Herzlich grüße ich auch die Vertreter unserer Gemeinderatsfraktionen, die nachher mit mir gemeinsam den Gedenkkranz niederlegen werden. Es ist wichtig, dass bei den grundlegenden Fragen unserer freien und friedlichen Gesellschaft die Vertreterinnen und Vertreter unserer demokratischen Parteien zusammen stehen. So war unter anderem im Frühsommer bei der Kundgebung für Weltoffenheit und gegen Fremdenhass, so ist es auch heute.

Und natürlich begrüße ich alle Bürgerinnen und Bürger, die heute auf den Friedhof gekommen sind. Sie bezeugen durch Ihre Anwesenheit, dass Ihnen Frieden, Gerechtigkeit, Aussöhnung und Toleranz wichtig sind. Wir brauchen Sie.

Meine Damen und Herren,
der heutige Tag ist ein Tag, an dem viel in die Vergangenheit geblickt wird.
  • Auf den Ersten Weltkrieg, die „Urkatastrophe“ des 20. Jahrhunderts.
  • Auf die Verbrechen des Nazi-Regimes und den Zweiten Weltkrieg.
  • Auf Flucht und Vertreibung nach 1945.
  • Und auf die zahlreichen Kriege und Konflikte, die es seither gab – in Korea und Vietnam, in zahlreichen Ländern Afrikas und im Nahen Osten oder im zerfallenden Jugoslawien der 1990er-Jahre.
All diese Rückblicke sind wichtig und richtig. Sie zeigen uns deutlich, zu welchen Grausamkeiten Menschen fähig sind – und wie eng Zivilisation und Barbarei beieinanderliegen. Sie erinnern uns daran, dass sich auch in hochentwickelten Gesellschaften innerhalb kurzer Zeit ein solches Klima des Hasses aufbauen kann, dass Mord und Totschlag zur Normalität werden. Kaum jemand im Deutschland der 1920er-Jahre oder im Jugoslawien der 1980er-Jahre hätte schließlich gedacht, was sich wenige Jahre später abspielen wird.

In meinen  einführenden Worten zum heutigen Tag möchte ich dennoch – oder gerade deswegen - den Blick auf die Gegenwart lenken.

Ich bin sicher, dass das Ergebnis der Präsidentschaftswahlen in den USA am frühen Mittwochmorgen uns alle, die wir hier versammelt sind, beschäftigt hat.  Ich will nun keine Prognose abgeben, wie die Entwicklung weiter gehen wird – zumal ja gerade an diesem Beispiel deutlich wurde, wie unsicher Prognosen oft sind. Aber ein Blick auf die zurückliegenden Monate des Wahlkampfes ist in mehrerlei Hinsicht erschreckend:
  • Noch nie wurde in den USA ein Wahlkampf mit so viel Hass geführt.
  • Noch nie wurde so offensichtlich und dreist gelogen, ohne dass es den Bewerbern groß angekreidet wurde
  • Und noch nie in der jüngeren US-Geschichte wurde so massiv auf Ressentiments und Vorurteile gesetzt – gegen Frauen, gegen Mexikaner, gegen Muslime, gegen Behinderte, gegen Homosexuelle.
Politische Programme und Argumente spielten keine Rolle. Es war ein Wahlkampf der Gefühle – der negativen Gefühle. Und deshalb ist mir dieses Thema heute so wichtig: Denn die Wahlen in den USA und ihr Ergebnis sind symptomatisch für eine Entwicklung, die wir in vielen Gesellschaften beobachten. Und in denen ich eine ernsthafte Gefahr für Frieden und Freiheit sehe – für das also, wofür die die Generationen vor uns gekämpft haben – und was die Jüngeren als selbstverständlich empfinden.  

Meine Damen und Herren,
ich mache mir um unsere Gesellschaft, um Frieden und um Freiheit ernsthafte Sorgen.

Die eingangs zitierte 70-jährige Epoche von Frieden und Wohlstand verdanken wir der Tatsache, dass Bürger und Politiker gemeinsam die Nachkriegsordnung aufbauten. Dass Grundregeln der Demokratie von allen akzeptiert wurden. Dass es in der Politik eine engagierten aber fair ausgetragenen Widerstreit der Ideen ab. Die Überzeugungen der Akteure wichen dabei durchaus voneinander ab, es gab harte und leidenschaftliche Diskussionen – aber jede Seite konnte ihre Positionen seriös begründen und erklären. Und sie berief sich dabei auf Fakten und Argumenten.  
Mittlerweile müssen wir aber feststellen, dass sich für immer mehr Menschen Fakten nicht mehr zählen. Der in zahlreichen Reden und Kommentaren auftauchende Begriff des „postfaktischen Zeitalters“ hat beste Chancen, Wort des Jahres zu werden. Und in der postfaktischen Gesellschaft zählen nicht belegbare Daten oder Analysen sondern nur Gefühle – und zwar meist negative.

Wer versucht, gegen diese Gefühle zu argumentieren, hat schlechte Karte:
  • Als Politiker ist man Vertreter der verhassten Systemparteien
  • Als Journalist ist man gekaufter Schreiber der Lügenpresse
  • Und wer sich privat auf Diskussionen einlässt, wird als gekaufter Idiot oder  „Gutmensch“ diffamiert.
Und es ist ja nicht nur ein Phänomen in den USA:
  • In Großbritannien stimmte eine Mehrheit für den Austritt aus der EU. Dass ohne die europäische Einigung der Frieden in Europa niemals so stabil und dauerhaft geworden wäre, wird ignoriert.
  • In immer mehr europäischen Gesellschaften dominieren Parteien, die auf einfache Lösungen, Ressentiments und eine möglichst homogene Gesellschaft setzen.
  • Und auch bei uns in Deutschland gewinnen Rechtspopulisten an Boden. Wie stark sie mittlerweile sind, werden wir spätestens bei der Bundestagswahl im nächsten Herbst erleben.
All diesen Bewegungen und Parteien ist eines gemein: Sie lehnen diejenigen ab, die sie zur Elite rechnen, die Vertreter der Politik und der Medien. Und sie stellen die Grundwerte unserer freien Gesellschaft in Frage.

Welche Grundwerte dies sind, hat Bundeskanzlerin Angela Merkel in ihrer Grußbotschaft an den neuen US-Präsidenten prägnant zusammengefasst:

„Demokratie, Freiheit, Respekt vor dem Recht und der Würde jedes einzelnen Menschen, unabhängig von Herkunft, Hautfarbe, Religion, Geschlecht, sexueller Orientierung oder politischer Einstellung."  

Dem ist nichts hinzuzufügen.

Unsere große Aufgabe wird es nun sein, die Menschen wieder für diese Werte zu gewinnen.

Dies kann nicht geschehen, indem man die Parolen einfach nachplappert – im Zweifel entscheidet sich der Wähler immer für das Original. Wir müssen uns vielmehr fragen, warum sich so viele Menschen nicht mehr vertreten fühlen:
  • Weil sich vielleicht ihre soziale Stellung drastisch verschlechtert hat?
  • Oder weil sie von einer globalisierten Welt mehr Nachteile als Vorteile erlebt haben?
  • Oder weil sie feststellen müssen, dass die Unterschiede in der Vermögensverteilung immer größer werden – und sie selber nichts davon haben?
Ich kann und will hier nun keine Patentrezepte abliefern. Ich will aber am heutigen Volkstrauertag nochmals daran erinnern, was unsere Gesellschaft schon einmal erlebte:
  • Dass in einer Umbruchsituation viele das Gefühl hatten, auf der Strecke zu bleiben
  • Dass Politiker mit Vorurteilen und Hass Stimmung machten – und damit Erfolg hatten
  • Dass große Teile der Bevölkerung ein abgrundtiefes Misstrauen gegen alle hegten, die sie der Elite zurechneten.
Sie alle wissen, wann dies so war. Und Sie wissen auch, welche Folgen es hatte. Ohne sie gäbe es keinen Volkstrauertag.

Es liegt an uns allen, unsere Demokratie und unsere Freiheit, unsere offene, pluralistische und tolerante Gesellschaft zu verteidigen. Sie ist es wert.