Vorlesen

200 Zuhörer bei Zeitzeugengespräch im Rathaus - Franz-Josef Müller erinnert an die "Weiße Rose"


1942 verschickte Franz-Josef Müller Flugblätter der Widerstandsgruppe "Weiße Rose" gegen die NS-Diktatur. Am Montag war er als Zeitzeuge in Tuttlingen zu Gast - und faszinierte über 200 Zuhörer im bis auf den letzten Platz gefüllten Rathausfoyer mit seinen Erinnerungen.

Zeitzeugen
Erinnerungen an die Weiße Rose: Franz-Josef Müller und seine Frau Britta im
Tuttlinger Rathausfoyer. Links im Hintergrund ein Foto von Franz-Josef Müller aus dem
Jahr 1942.


Vor allem für die zahlreichen Schüler im Publikum war es ein Blick in eine Welt, die so gar nichts mit ihrer zu tun hat. Es war die Erinnerung an eine Zeit, in der schon der Besitz eines Flugblattes den Tod bedeuten könnte. Und in der man sich auf dem Postamt fragen lassen musste, für was man denn eigentlich 150 Briefmarken benötigt. Für Franz Josef Müller ist diese Zeit dagegen noch sehr präsent. Und nicht nur das. Der 82-jährige Ulmer ist ein Mann, der - so OB Michael Beck in seiner Begrüßung - "nicht nur Geschichte erlebt, sondern auch gemacht hat." Franz-Josef Müller war Mitglied der "Weißen Rose". Er gehörte zu der Gruppe von Schülern und Studenten, die in München und Ulm mit Flugblättern zum Widerstand gegen das Nazi-Regime aufriefen - und aus deren Reihen sechs junge Menschen hingerichtet wurden. Darunter auch die Geschwister Sophie und Hans Scholl.

Als Zeitzeuge, der all dies aus nächster Nähe miterlebt hat, war Franz-Josef Müller nach Tuttlingen gekommen. Organisiert worden war der Besuch von Thorsten Mayer, Lehrer für Deutsch und Ethik an den Hauswirtschaftlichen und Kaufmännischen Schulen. Der Abend mit Müller war gleichzeitig auch Auftakt für eine Ausstellung im Rathausfoyer, auf der die Geschichte der Weißen Rose dargestellt ist, und die noch bis zum 6. Dezember geöffnet ist. Veranstaltet und finanziert wird das Projekt gemeinsam von der Stadt Tuttlingen und den Hauswirtschaftlichen und Kaufmännischen Schulen.

Wenn Franz-Josef Müller spricht, wird die Geschichte lebendig. Er formuliert gewählt, aber ohne zurückhaltende Distanz zu den Ereignissen. Und er drückt sich kraftvoll aus. "Wir wollten nicht für diesen Brüllaffen namens Hitler in Russland zugrunde gehen" - so beschreibt er die Motivation der jungen Leute, die sich damals in der weißen Rose fanden. Und die Ablehnung kam aus einer Haltung heraus, die von humanistischer Gymnasialbildung, katholischer Jugendbewegung und jugendlicher Lässigkeit geprägt war: "Wir wollten schlendern statt marschieren". In nächtelangen Diskussionen über Politik und Gerechtigkeit wurden die Ansichten politischer - und zur Frage des persönlichen Lebensstils kamen politische Philosophien: "Die weiße Rose formulierte die Idee eines vereinten und freien Europas", erinnert sich Müller - "damals eine Utopie. Heute haben wir es - für mich ist das immer noch unglaublich."

Für diese Utopie setzten die Mitglieder der Weißen Rose ihr Leben ein, sechs ließen es. Doch die Todesnähe sei damals eine andere gewesen als heute. "Über 60 Prozent meines Abiturjahrgangs sind gefallen oder wurden im Krieg schwer verwundet", rechnet Müller vor. "Der Tod war für uns sehr nahe." Vor diesem Hintergrund habe man dann auch einen ganz eigenen Humor entwickelt. Und so schickte der Abiturient Müller auch drei Flugblätter nebst Zusatz "bitte weiter verbreiten" an einen ganz besonderen Adressaten: Auf den dünnen blauen Umschlag schrieb er "Herrn Adolf Hitler - Reichskanzler - Berlin."

INFO:

Die Ausstellung ist bis 6. Dezember im Rathausfoyer während der üblichen Öffnungszeiten zu sehen. Aus Termingründen ist sie vom 1. bis 3. Dezember geschlossen. Öffentliche Führungen gibt es am Mittwoch, 29. November, 17 Uhr und am Montag und Dienstag, 4. und 5. Dezember, jeweils um 17.45 Uhr. Weitere Führungen können unter 07461 / 965 4025 vereinbart