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Ansprache von Bundespräsident a.D. Prof. Dr. Horst Köhler zur Verleihung des Ehrengeschenkes "Kannitverstan" an Ortwin Guhl -


I.
Kartelle sind nirgends gut, weder Preiskartelle in der Wirtschaft noch Zitierkartelle in der Wissenschaft noch Lobekartelle auf Gegenseitigkeit in Politik und Gesellschaft. Darum halte ich vorbeugend fest: Ich bin nicht auf Gegenseitigkeit hier, etwa weil Ortwin Guhl und ich auf gute gemeinsame Jahre in der deutschen Sparkassenorganisation zurückblicken können oder weil er als Mitglied einer Bundesversammlung anschließend öffentlich erklärt hat, er habe mich gewählt. Nein, wir sind keine Kartellbrüder, wir sind gute Freunde. Gerade als Freund bin ich allerdings besonders dankbar dafür, dass ich an diesem Guhlschen Ehrentag sprechen darf. Und vielleicht kann gerade ein Freund hier Impressionen beitragen, die das Guhl-Porträt noch ein wenig unverwechselbarer machen.

II.
Ein solches Porträt kann nur mit kräftigen Linien und Farben lebensecht sein. Das Erlebnis Ortwin Guhl ist ein intensives, dem wird man nicht mit Bleistift-Stricheleien gerecht. Das Erlebnis Ortwin Guhl ist außerdem gelegentlich ein nicht unanstrengendes und zumeist ein nachhaltiges. Das teilt sich anscheinend sogar Menschen mit, die ihn gar nicht persönlich kennen. Ein Bekannter in Berlin, dem ich von unserer heutigen Feier erzählt habe und der zunächst fragte "Ortwin Wer?", der guckte dann ins Internet und meinte anschließend, auf manchen Bildern dort wirke der Herr Guhl ein wenig "wie ein Judoka vor dem Kampf - ruhig, aber energiegeladen und hochkonzentriert."

Nun, wer Ortwin Guhl einmal kennengelernt hat, der fragt nie wieder "Ortwin Wer?", und der Vergleich mit dem Judoka vor dem Wettkampf erscheint mir gar nicht so übel, denn auch für Ortwin Guhl gilt: Der steht nirgends bloß dekorativ so herum, der will immer ohne viel Federlesens zur Sache gehen, der hält sich strikt an die Regeln, aber der will sich durchsetzen und etwas erreichen, und dabei kennt er manchen Griff und Kniff, um selbst die Widerstrebenden zu sich herüber zu ziehen.

Es waren nicht zuletzt solche Qualitäten, die Ortwin in seiner Zeit als Chef der Kreissparkasse Tuttlingen den Ruf verschafft haben, er sei ein "Rebell", der im Bankgeschäft alle flinken Tagesmoden ablehne und der statt dessen das Banner der Sparkassenidee hochhalte mit dem Wappenspruch: Treue zur regionalen Wirtschaft und Dienst am Gemeinwohl. Das fanden damals Viele veraltet, sie bewunderten sogenannte Global Player und wollten auch an der schönen neuen Welt des Schulden- und Wettkapitalismus teilhaben. Aber mehr als eine Landesbank zog um Wolle aus und kehrte geschoren zurück, während die Kreissparkasse Tuttlingen, die Region Tuttlingen mit ihrer mittelständischen Wirtschaft und die Bürgerschaft in Tuttlingen und Umgebung blühen und gedeihen bis auf den heutigen Tag. Der Rebell hatte also nicht nur seinen eigenen Kopf, er hatte auch nachhaltig Erfolg.

Das liegt vor allem daran, was in diesem seinem Kopf und in seinem Herzen drinnen ist: Ortwin Guhl ist klug, gebildet und gläubig. Er hat von Kindesbeinen an die Maxime "ora et labora" beherzigt, und vermutlich haben auch seine Zeit im katholischen Internat und seine theologischen Studien ihn gelehrt, mit Grundsätzen und in Zusammenhängen zu denken, ohne dogmatisch zu sein. Sein Freiheitssinn und sein Verantwortungsbewusstsein sind jedenfalls zutiefst christlich geprägt, und das macht seine Stimme und sein unternehmerisches Beispiel in Zeiten wie diesen besonders wichtig und wertvoll. Warum? Deutschland, Europa und der Westen ringen mit finanziellen und ordnungspolitischen Herausforderungen, die zu einer Selbstbesinnung zwingen. Wer sind wir, wozu wirtschaften wir, welchem Ethos fühlen wir uns verpflichtet? Diese Fragen stellen sich seit dem Ende des Kalten Krieges, seit dem Aufstieg neuer Mächte, seit der Gefährdung unserer Biosphäre durch Umweltzerstörung und Klimawandel und angesichts der Finanz- und Haushaltskrisen des Westens dringlicher denn je. Unser christlicher Kulturkreis hat über Jahrhunderte Gedanken, Haltungen und Praxis entwickelt, die in diesen Dingen eine gute Orientierung geben, die auch unsere Soziale Marktwirtschaft grundieren und die wir darum für unsere Zeit wiederentdecken und mit neuem Leben erfüllen sollten. Wenn es dem Westen gelänge, eine Wirtschafts- und Finanzordnung zu gestalten, die weder zu Gier und Geiz anreizt noch Faulheit belohnt, eine Ordnung, die weder Verschwendung und Völlerei begünstigt noch die Zerstörung der Schöpfung duldet und die den Menschen nicht zum marktrationalen Einzelkämpfer mutieren lässt, sondern seine Bindung an Gemeinschaften und Freundschaften stärkt, nicht zuletzt seine Bindung an die Freundschaft zwischen den Generationen, dann wäre viel getan, dann hätten wir etwas wirklich Gottgefälliges erreicht. Ein solches Reformprojekt ist (1) auf kluge Köpfe, (2) auf hartnäckige Verfechter einer wertorientierten Wirtschaftsweise und (3) auf gute Beispiele aus der Praxis angewiesen - und da ist Ortwin Guhl sozusagen ein Dreierpack.

III.
Meine Damen und Herren,
nach dem Berufsleben kommt ein weiterer schöner Lebensabschnitt, der oft mit i.R. abgekürzt wird, "im Ruhestand". Kann man auch bei Ortwin Guhl machen, nur bedeuten bei ihm die Buchstaben "i.R.": "in Reichweite". Er ist immer erreichbar für gute Ideen und Projekte, und er erreicht jeden und alles (und schnell!), wenn er etwas Gutes voranbringen will. Das will er eigentlich immer. Das Spektrum reicht vom Hochschulcampus Tuttlingen und dem Loyola Gymnasium im Kosovo bis zum Kreisverband des Deutschen Roten Kreuzes und von der hiesigen Bürgerstiftung bis zu den Finanzen der Diözese Rottenburg-Stuttgart. Ortwin hat den jahrzehntelang geschulten Blick dafür, welche Vorhaben Aussicht auf Erfolg bieten, wie der Erfolg organisiert werden muss und wem man das Geld dafür anvertrauen kann. Er weiß auch, bei wem sich dieses Geld besorgen lässt. Das macht ihn für potentielle Sponsoren mitunter zu einem schwierigen Gesprächspartner - Ausflüchtemachen gilt bei ihm nämlich nicht, bei Ausflüchten gilt für ihn "Kannitverstan". Es macht ihn aber zugleich für ungezählte Menschen zu einem wunderbaren Möglichmacher, zu einem, der Türen öffnet für ihre Eigeninitiative und für ihr Engagement.

So ist der Bürger Guhl ebenso regsam und wirksam, wie es schon der Sparkassenchef Guhl gewesen ist. Beides wächst auf demselben Zweig und hat dieselben Wurzeln, glaube ich. Beides wurzelt in der Überzeugung, dass wir unsere Freiheit als erstes in den für uns überschaubaren Lebenskreisen gebrauchen sollen, um zusammenzuarbeiten und das Miteinander für alle zu verbessern. Beides wurzelt in der Überzeugung, dass sich Freiheitsliebe nicht durch globale Redensarten beweist, sondern durch ein tätiges Leben in der Heimat, in die wir zuallererst gestellt sind und die, wie Vaclav Havel einmal gesagt hat, unser Anteil ist an "der 'Welt im Ganzen' (...), etwas, das uns einen Platz in der Welt verschafft, statt uns von der Welt zu trennen." Beides wurzelt in der Überzeugung, dass es die Liebe zur Freiheit und der Glaube an die Verbesserungsfähigkeit der Welt und das Vertrauen auf die eigene Gestaltungsfähigkeit ist, was den Bürger ausmacht und worauf unsere Republik gegründet ist.



Meine Damen und Herren,
auch die katholische Soziallehre weist dem Subsidiaritätsprinzip einen hohen Stellenwert zu, das heißt dem Grundsatz, dass das Zusammenleben von den Bürgerinnen und Bürgern so weit wie möglich selbstbestimmt und eigenverantwortlich gestaltet werden soll. Übrigens gilt das nicht erst für die Bürgergesellschaft. Die anfänglichste Gesellschaft von allen ist die Familie. Die allermeisten von uns üben schon in der Familie ein, was es bedeutet, Verantwortung zu übernehmen und gegenseitig Rücksicht zu üben. Aus starken Familien erwächst die Kraft einer Gesellschaft, und die Kraft unserer Wirtschaft verdankt am meisten den Familienbetrieben. Für Ortwin Guhl ist darum Familienfreundlichkeit kein schickes Schlagwort, sondern Grundlage für eine humane Gesellschaft. Für manche mittelständischen Unternehmen in der Region ist er eine Art „Vater“ geworden, dessen Rat auch in schwierigen familiären Angelegenheiten gesucht wird.

Meine Damen und Herren,
ein Land, das wie unseres auf Selbstverantwortung und Eigeninitiative setzt, braucht Menschen, die tatsächlich den Mut und die Kraft und die Ideen haben, um  selbstbestimmt und eigenverantwortlich tätig zu sein. Davon gibt es bei uns in Deutschland gottlob viele, und dass sie nicht aussterben, das verdanken wir Persönlichkeiten wie Ortwin Guhl, die anderen Mut machen und ihnen Selbstvertrauen und Kraft geben und mit guten Ideen vorangehen wie zum Beispiel mit der Bürgerstiftung Tuttlingen.

Solche Initiativen geben unserem Staat und unserer Gesellschaft etwas, was sich durch nichts ersetzen lässt. Eine Sozialverwaltung kann noch so gut sein, sie bleibt immer Verwaltung. Eine Gesellschaft kann noch so wohlhabend sein, es wird in ihr immer Menschen geben, die mehr und anderes brauchen als die Zuständigkeit einer Bürokratie. Das bürgerschaftliche Miteinander (1) schafft Orte und knüpft Beziehungen, die das nötige staatliche Handeln nicht etwa entlasten oder ersetzen, sondern um eine zusätzliche Dimension ergänzen; und das bürgerschaftliche Engagement (2) ermöglicht den Bürgerinnen und Bürgern Begegnungen und Erfahrungen, die sie an den Geschmack der Freiheit und der Solidarität gewöhnen und ihnen vor Augen führen, wie viel sie aus eigener Kraft erreichen können. Beides lässt sich nirgends kaufen und ist zugleich unbezahlbar.

Menschen wie Ortwin Guhl wissen das. Sie empfinden das Glück der Freiheit so lebhaft wie die Verantwortung, die unsere Freiheit birgt. Sie wissen, wie sauer verdient die meisten Erfolge sind, und wie glücklich uns trotzdem schon die Anstrengung dafür machen kann. Sie wissen die Talente zu schätzen, die sie selber und ihre Mitmenschen empfangen haben, aber sie wollen, dass mit diesen Talenten dann auch anständig gewuchert wird. Sie sind überzeugt vom Glück der Tüchtigen, und sie wollen, dass alle möglichst gute Chancen dafür bekommen, dieses Glück zu verfolgen. Das hält Menschen wie Ortwin Guhl auf Trab, und darum halten sie uns auf Trab.

IV.
Meine Damen und Herren,
keine Festansprache ohne Goethe-Zitat. Wer seinen "Faust" liest, erkennt: Der Teufel ist ein ebenso raffinierter wie häretischer Theologe, er ist ein abgefeimter Finanzpolitiker, und er hat einen ziemlich unsentimentalen Blick auf politische Beraterstäbe. Der Theologe Mephistopheles behauptet keck, von einem Wort lasse sich kein Jota rauben, womit er zwischen den Zeilen Christus die Gotteseigenschaft bestreitet; der Finanzpolitiker Mephistopheles schiebt einen gigantischen Papiergeldschwindel an; und der Politikbeobachter Mephistopheles stellt mit Blick auf eine Versammlung kaiserlicher Berater fest:

"Wie sich Verdienst und Glück verketten,
Das fällt den Toren niemals ein;
Wenn sie den Stein der Weisen hätten,
Der Weise mangelte dem Stein.“

Im Vergleich mit diesem höfischen Beraterstab zeigen uns Tage wie der heutige, wie gut es doch ist, in einer freiheitlichen, föderalen und auf kommunale Selbstverwaltung gegründeten Republik zu leben. Hier ist die Bürgerschaft ihr eigener bester Berater, und in Tuttlingen ist sie mit sich zu Rate gegangen und hat sich parteiübergreifend und einstimmig dazu entschieden, Ortwin Guhl ihre höchste Ehrengabe zu verleihen. Sie ehrt ihn damit als Gleichen unter Gleichen, der doch hervortritt in der Runde, auf den sie stolz ist und in dem sie sich und ihr Bestes wiedererkennt. "Tuttlingen", sagen heute seine Bürgerinnen und Bürger, "Tuttlingen hat nicht den Stein der Weisen. Aber wir haben Ortwin Guhl." Dazu möchte ich gleichermaßen der Stadt wie Dir, lieber Ortwin, herzlich gratulieren.