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Galerie der Stadt Tuttlingen zeigt Retrospektive von „Bernar Venet – Reliefs“


Die Galerie der Stadt Tuttlingen zeigt vom 24. Juli bis zum 12. September 2021 eine Retrospektive der Reliefarbeiten von Bernar Venet mit Werkbeispielen von 1961 bis heute. Der weltbekannte französische Künstler gilt als ein Pionier der Konzeptkunst in den 60er-Jahren. Er begründete einen neuen Ansatz, indem er Mathematik und wissenschaftliche Sprache in seine Kunst einbezog.

Porträt Bernar Venet

Zur Ausstellung gehören die Reliefs aus Pappe ("Cardboard Reliefs") der frühen 60er Jahre sowie Beispiele aus seinen seither entwickelten Werkserien, mit denen er stets große Beachtung als Neuerer fand. Eine wichtige Rolle spielen die Holzreliefs der späten 70er und frühen 80er Jahre – Bögen, Winkel und Linien ("Arcs", "Angles" und "Straight Lines") – sowie die „Indeterminate Lines“, mit denen er 1979 begann und die er in verschiedenen Varianten während der 80er- und 90er-Jahre fortführte. Diesen folgten in der Zeit nach der Jahrtausendwende die sogenannten „Gribs“ (kurz für fr. "gribouillage" oder Gekritzel) sowie anschließend die „Continuous Curves“.

Werk des Künstlers Bernar Venet, GRIB 1, 2011

Im Zusammenhang mit der Ausstellung wird Bernar Venet am 23. Juli ein Kunstwerk schaffen und es der Stadt Tuttlingen widmen. Das Werk mit dem Titel "The Straight Line and the Pictoral Memory of the Gesture" (Die gerade Linie und die bildliche Erinnerung der Geste) bewegt sich an der Schnittstelle von Live Performance, Malerei und Skulptur. Venet wird das Werk mit Hilfe eines in Farbe getauchten Vierkantstahlblocks in fächerartiger Struktur direkt auf die Wand aufbringen.

Zur Ausstellung hat die Galerie der Stadt Tuttlingen zum Preis von 30 Euro einen umfangreichen, reich bebilderten Katalog (in englischer Sprache) zu den Reliefs von Bernar Venet herausgebracht (Texte: Raphaël Pirenne und Olivier Schefer).

Werdegang und Hintergrund:

Bernar Venet (geboren 1941 in Château-Arnoux/F) ist einer der herausragenden Künstler des 20. und 21. Jahrhunderts. In den vergangenen sechs Jahrzehnten hatte er Einzelausstellungen in Europa, den USA, Südamerika und Asien, und er war in der Kasseler Documenta (1977) sowie den Biennalen von Paris, Venedig und São Paolo vertreten. Schon 1979 wurde Venets Arbeit durch die Nationale Kunststiftung der USA ausgezeichnet. 1989 erhielt er den Grand Prix de la Ville de Paris.1997 wurde er Mitglied der Europäischen Akademie für Kunst und Wissenschaft in Salzburg. 2005 wurde er zum „Chevalier de la Légion d´honneur“ ernannt (höchste Auszeichnung Frankreichs). Dem folgten der Robert Jacobsen-Preis für Skulptur in 2006 und die Auszeichnung für sein Lebenswerk durch das International Sculpture Center in 2016. 2020 wurde er zum Mitglied der Royal Society of Sculptors in Großbritannien ernannt.

Bernar Venet ist es gelungen, eine völlig eigenständige Formensprache zu entwickeln; er gilt als einer der bedeutendsten Bildhauer der Gegenwart. Mit seinen unverwechselbaren Stahlskulpturen ist er weltweit präsent. Er ist der international meistgezeigte Künstler Frankreichs und schuf u. a. in Auckland, Austin, Berlin, Denver, Genf, Neu-Ulm, Köln, Nizza, Paris, Shenzhen, San Francisco, Seoul, Tokio und Toulouse permanente Skulpturen im öffentlichen Raum. In Deutschland wurde er 1987 durch die vom französischen Staat anlässlich der 750-Jahr-Feier Berlins geschenkten 20 Meter hohen Stahlskulptur "124.5° Arc" bekannt.

Bevor Venet mit den freistehenden monumentalen Stahlskulpturen begann, untersuchte er verschiedenste Materialien, Techniken und Medien. Er malte mit Teer auf Leinwand, mit schwarzem Lack auf Zeitungspapiercollagen, verschraubte dicke Wellpappe zu Reliefs, denen er einen einfarbigen Lackanstrich gab. Er häufte Kohle zu einer Materialassemblage an, der ersten Skulptur ohne definierter Form oder Abmessung. Er arbeitete mit Photographie, Performance-Malerei, Zeichnung und experimentierte mit Geräuschaufnahmen, um so die Konzepte von Monosemie (Eindeutigkeit) und Selbstbezüglichkeit in unterschiedlichen künstlerischen Bereichen auszuloten.

1959/60 arbeitete Bernar Venet als Bühnenbildner an der Oper von Nizza und nahm 1964, 1965 und 1967 an den Ausstellungen des Musée d'Art Moderne de la Ville de Paris teil. Mit Unterstützung von Arman ließ er sich 1966 in New York nieder und lernte die Pioniere der amerikanischen Minimal Art kennen, insbesondere Donald Judd und Sol LeWitt, mit denen er auch ausstellte. 1968 nahm er an der legendären Avantgarde-Messe "Prospect 68" in Düsseldorf teil, und 1971 hatte er seine erste Retrospektive am New Yorker "Cultural Center". Nach einer selbstverordneten Kunst-Pause verbrachte er einige Zeit in Paris, lehrte von 1974-75 Kunsttheorie an der Sorbonne Université und hielt Vorlesungen und Vorträge in Europa.

1976 kehrte er nach New York zurück und begann, wieder künstlerisch zu arbeiten. Er beschäftigte sich – zunächst in seinen Bildern, dann in Holzreliefs – mit elementaren geometrischen Figuren wie Geraden, Winkeln und Bögen, um diese Varianten zum Thema der Linie schließlich auch in die Dreidimensionalität zu übertragen und seine ersten Stahlskulpturen zu entwickeln.

1989 kaufte er eine alte Fabrik und Wassermühle in Le Muy, Südfrankreich, die in den letzten dreißig Jahren grundlegend umgestaltet wurde. Heute ist dieser Ort Sitz der Venet-Stiftung. Wo früher Weichen für Schienen hergestellt wurden, stellt der Künstler seine Arbeiten aus. Werke seiner Sammlung, die er mit befreundeten Künstlern seit den 1960er Jahren getauscht hat, präsentiert er in einem Ausstellungsraum und im weitläufigen Park, der das Areal umgibt – eine Kapelle von Frank Stella, Postkarten von On Kawara, Lichtarbeiten von Dan Flavin und François Morellet.

Jacques Chirac, damaliger Oberbürgermeister von Paris, lud ihn 1994 ein, zwölf monumentale Stahlskulpturen zu schaffen, um sie auf den Champs de Mars am Fuße des Eiffelturms auszustellen. Es folgte eine Welt-Tournee von Venets Skulpturen. 2001 wurde in Château-Arnoux-Saint-Auban, seinem Geburtsort, die Kapelle Saint Jean eröffnet, deren Bleiglasfenster und Ausstattung Venet entwarf.

Die internationale Anerkennung blieb nicht aus. In aller Welt wurden Venet Ehrungen und Ausstellungen zuteil. Seine Werke sind in den bedeutendsten Museen, öffentlichen und privaten Sammlungen vertreten und stehen auf zentralen Plätzen weltweit. Venet lebt und arbeitet zwischen Frankreich und New York. Seine Impulse und seine schöpferische Unruhe erhält Venet aus diesen Ortswechseln mit ihren Kontrasten. In New York bringt er seine Ideen zu Papier und experimentiert mit kleinen Modellen, die er dann entweder vor Ort oder später in einer Werkstätte in Ungarn in harter körperlicher Arbeit ausführt.

Seit seinen Anfängen, den frühen 1960er Jahren, gründet sein gesamtes Schaffen auf dem Grundsatz der Immanenz, der Einbeziehung der wissenschaftlichen und mathematischen Sprache und Denkweise in seine Werke und auf seinen kunsttheoretischen Auseinandersetzungen. Die grundlegendste dieser Ideen, die Linie, zieht sich als Thema durch sein gesamtes künstlerisches Schaffen. Sie ist in seinen Stahlskulpturen der Gegenstand, anhand dessen er sich mit den Phänomenen Zeit, Raum und Bewegung auseinandersetzt. Bernar Venets herausragende Stellung innerhalb der zeitgenössischen Kunst beruht auf seinem vielseitigen Werk, das er ständig weiterentwickelt.