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Volkstrauertag 2009 - 15. November 2009


Sehr geehrte Damen und Herren,

zur Gedenkfeier der Stadt Tuttlingen zum Volkstrauertag 2009 darf ich Sie herzlich begrüßen. Ich begrüße besonders diejenigen, die diese Gedenkfeier mitgestalten werden:

  • Die Musikerinnen und Musiker des Städtischen Blasorchesters. Sie werden wie immer unserer Gedenkfeier den würdigen Rahmen verleihen.
  • Die Schülerinnen und Schüler des IKG mit ihren Lehrern Arnika Hamsea und Robert Stein. Sie zeigen uns auf eindrucksvolle Weise, dass sich auch die Generation der heutigen Jugend mit der Vergangenheit auseinandersetzt.
  • Die Fahnenabordnungen der Feuerwehr Tuttlingen, der Chorgemeinschaft Tuttlingen und der Schützengesellschaft Schönblick. Sie erinnern daran, dass wir heute auch an Menschen denken, die einst Bürger unserer Stadt waren und die mitten aus diesem Leben gerissen wurden.
  • Die Vertreter der Vertriebenenverbände, die ins Gedächtnis rufen, dass der Zweite Weltkrieg auch mit der millionenfachen Vertreibung und dem Verlust von Heimat verbunden war.
Und ich begrüße die Vertreter der Gemeinderatsfraktionen und alle Bürgerinnen und Bürger, die heute den Weg auf unseren Ehrenfriedhof gefunden haben. Ich bin froh, dass Sie gekommen sind, um zu gedenken – und das nicht nur mit Blick auf die beiden Weltkriege des letzten Jahrhunderts. Denn der Volkstrauertag ist mehr. Er ist der Gedenktag schlechthin gegen Krieg und Gewalt, gegen Intoleranz und Rassenhass. Und er ist gleichzeitig der Gedenktag für Frieden und Verständigung. Für Toleranz und Mitmenschlichkeit. Und auch für Versöhnung.

Meine Damen und Herren,

es ist erst wenige Tage her, dass wir uns an den 20. Jahrestag des Berliner Mauerfalls erinnerten. Auch wenn das Ende der kommunistischen Diktaturen schon ein Jahr früher in Polen und Ungarn seinen Anfang nahm: Der 9. November 1989 stellt für uns Deutsche den Wendepunkt schlechthin dar. Denn es war der Tag, an dem mehreres deutlich wurde:

  • Erstens: Ein System kann auf Dauer nicht gegen das eigene Volk regieren.
  • Zweitens: Auch vermeintlich dauerhafte Verhältnisse können sich über Nacht ändern.
  • Und drittens: Auch friedlicher Protest kann sich durchsetzen.
Vor allem Letzteres gab den Menschen damals sehr viel Hoffnung. Es war die Hoffnung, dass nach dem Ende des Kalten Krieges nun auch ein Ende der bewaffneten Konflikte kommen würde. Dass mit dem Ende der Ost-West-Spannungen die Menschheit gemeinsam Probleme wie Hunger, Unterentwicklung oder Umweltzerstörung in Angriff nehmen würde. Der US-Politologe Francis Fukuyama sprach damals sogar vom „Ende der Geschichte“. Und mit Geschichte meinte er eine Menschheitsgeschichte, die seit Jahrtausenden von Rivalitäten, Meinungsverschiedenheiten und Überlegenheitsgefühlen geprägt war. Und in der jede Epoche ihre Konflikte und Kriege hatte.

Wenn wir 20 Jahre später eine Bilanz ziehen, müssen wir ernüchtert feststellen: Von den großen Visionen ist wenig eingetreten. Selbst das deutsche Einheitsgefühl ist – drücken wir es höflich aus – noch optimierungsfähig. Und der Rest der Welt? Er ist ganz gewiss nicht friedlicher geworden.

Wir erleben Dutzende von Konflikten in Afrika. Sie sind zwar regional begrenzt und schaffen es nur selten in die Hauptausgabe der Tagesschau. An Grausamkeit sind sie aber nur schwer zu überbieten.

Wir erleben einen dauerhaften Krisenzustand in Regionen wie dem Nahen Osten. Auch hier ist – allen Friedensinitiativen zum Trotz - ein Ende der Gewalt nicht abzusehen.

Und wir erleben eine weltweite Spannung, die kulturell geprägt ist. An die Stelle der Rivalität zwischen Kommunismus und Marktwirtschaft trat ein Konflikt zwischen westlich liberalem Lebensstil und religiös verbrämtem Dogmatismus.

Gleichzeitig hat die neue Weltlage auch der Bundesrepublik eine neue Rolle gebracht. Das ist auch ein Nebeneffekt unserer wieder gewonnenen Souveränität. Und zu dieser neuen Rolle gehört aktives Handeln. Das bedeutet: Es reicht nicht aus, Menschenrechte in wohlklingenden Reden zu fordern und Diktatur und Willkürherrschaft zu verurteilen. Wir werden auch an Taten gemessen.

Meine Damen und Herren,

seit fast acht Jahren sind Soldaten der Bundeswehr in Afghanistan im Einsatz. Und beim Einsatz in Afghanistan handelt es sich nicht nur um Aufbauhilfe. Es handelt sich – so sehr wir das bedauern - auch um einen Kampfeinsatz. Ein Einsatz, bei dem Menschen zu Waffen greifen - und bei dem auch Menschen ge-tötet werden. Wir erleben heute wieder, dass junge Menschen in den Krieg ziehen – und möglicherweise verletzt oder gar nicht mehr zurückkehren. Auf diese Weise hat der Volks-trauertag auf eine tragische Art und Weise an Aktualität gewonnen.
Den Soldaten ist es dabei gleich, ob wir von einem Krieg, einem Auslandseinsatz oder ei-nem Kampfeinsatz sprechen. Wer mit einem Konvoi durch Afghanistan fährt und nicht weiß, ob im nächsten Fahrzeug eine Bombe tickt, kümmert sich wenig um die semantischen Feinheiten, mit denen wir uns in Deutschland gerade befassen.

Um sich wichtiger ist es, dass die Soldaten unsere Rückendeckung erhalten. Sie müssen spüren, dass die deutsche Gesellschaft hinter ihnen steht. Denn sie tragen im Namen unseres Landes dazu bei, dass sich in einem anderen Land so etwas wie eine Zivilgesellschaft erst aufbauen kann.

Gerade am heutigen Tag müssen wir uns klar machen, weswegen die Bundeswehr in Afghanistan ist. Für was sie dort eintritt und für was die Soldaten dort ihr Leben riskieren. Denn es sind die Werte der Freiheit, der Selbstbestimmung und der Menschenrechte. Werte also, die unmittelbar mit der Menschenwürde zu tun haben, die unsere Verfassung zu Recht als unantastbar bezeichnet. In Afghanistan geht es nicht um Territorialgewinne, um Rohstoffe oder um Ideologie. Es geht um Werte, die eigentlich universell sein sollten.

Meine Damen und Herren,

dass wir heute mit diesem Nachdruck für Menschenrechte eintreten, ist die wichtigste Konsequenz, die wir aus unserer eigenen Geschichte gezogen haben.

Und wenn ich anfangs an den 9. November 1989 erinnert habe, so will ich auch an den 9. November 1923 und den 9. November 1938 erinnern: Denn beides waren Tage, die Deutschlands Weg in eine ganz andere Richtung markierten:

  • Der 9. November 1923 als Tag des sogenannten „Hitlerputsches“, an dem Adolf Hitler und der Weltkriegs-General Erich Ludendorff versuchten, die Macht an sich zu reißen und die noch junge Weimarer Demokratie zu zerstören.
  • Und der 9. November 1938 als Tag der „Reichskristallnacht“, der für alle sichtbar den Übergang von der Diskriminierung hin zur physischen Vernichtung der jüdischen Mitbürger markierte.

Meine Damen und Herren,

zu Recht ist der Volkstrauertag heute der zentrale Gedenktag für alle Opfer von Krieg, Terror, Gewalt und Diktatur. Und er kennt keine Hierarchie der Opfer.

Wir gedenken heute der Soldaten, die in all den Kriegen starben – sei es im Kampf oder an den Bedingungen der Gefangenschaft. Und wir denken an die Bundeswehrsoldaten oder anderen Einsatzkräfte, die bei Auslandseinsätzen ihr Leben verloren.

Wir denken an alle Menschen, die wegen ihrer Nationalität, ihrer Rasse, ihrer Religion, ihrer Lebensweise oder wegen einer Krankheit oder Behinderung als minderwertig bezeichnet und ermordet wurden.

Wir gedenken all derer, die wegen ihrer politischen Überzeugung verfolgt, eingesperrt gefoltert und getötet wurden.

Wir denken an alle Opfer von Terrorismus und Bürgerkriegen.

Und wir erinnern uns an alle Menschen, die als Folge von Flucht und Vertreibung ihre Heimat verloren haben.

In unser Gedenken schließen wir auch alle mit ein, die unter dem Tod ihrer Angehörigen litten oder bis heute leiden – die Ehepartner, Eltern, Kinder oder Freunde, die von heute auf morgen auf einen lieben Menschen verzichten mussten, der Opfer eines so sinnlosen wie gewaltsamen Todes geworden war.

Und ihr Tod ist uns Mahnung. Mahnung gegen Hass und Intoleranz, gegen Rassismus, Extremismus und Fanatismus, gegen jede Form von Gewalt.

Meine Damen und Herren,

wir hören nun das Städtische Blasorchester mit dem Musikstück „Ich bete an die Macht der Liebe“. Möge sich diese Macht gegen die Macht des Hasses durchsetzen.