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Stolpersteinverlegung – Samstag, 2. November 2019 – 9.00 Uhr Galeriehof Tuttlingen


Der jüdische Kunsthistoriker Erwin Panofsky sagte einst: „Man sieht nur, was man weiß“. So geht es uns mit den Stolpersteinen – man sieht die Messingplatten in den Gehwegen unserer Straßen und weiß: Hier lebten Opfer des Nationalsozialismus. In Tuttlingen gibt es bereits 27 Stolpersteine – heute werden noch sieben weitere hinzukommen.


Die ersten Tuttlinger Stolpersteine wurden am 24. Mai 2016 verlegt – das ist gerade einmal dreieinhalb Jahre her. Doch es war eine andere Zeit – denn in der kurzen Zeit seit unserer ersten Stolpersteinverlegung hat sich die Debatte in einem Maß verschoben, dass man sich damals nicht vorstellen konnte. Damals wäre es undenkbar gewesen, dass führende Vertreter einer Partei, die im Bundestag und allen Landtagen vertreten ist
  • eine „erinnerungspolitische Wende um 180 Grad fordern
  • das Holocaust-Mahnmal in Berlin als „Denkmal der Schande“ bezeichnen
  • die NS-Diktatur als „Vogelschiss in über 1000 Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte“ verharmlosen
Diese Sichtweise auf die Geschichte und den Umgang mit der Geschichte ist auch eine Verhöhnung der Erinnerungskultur, wie wir sie in Tuttlingen pflegen – und dies seit vielen Jahren und in breiter Übereinstimmung aller GR-Fraktionen. Und von der Verhöhnung der Opfer ist es nur ein kurzer Weg zu mörderischer Gewalt – erst vor wenigen Wochen haben wir in Halle erlebt, wie schnell dies gehen kann. Aus Anlass der AfD-Proteste gegen die „Seebrücke“ habe ich dies auch öffentlich gesagt – und wurde daraufhin im Internet angegriffen. Ich bleibe aber dabei – und der heutige Termin ist der leider passende Anlass dafür: Wer systematisch Hass und Hetze verbreitet, macht sich an Gewalt bis zum Mord mitschuldig.

Umso wichtiger ist es mir, dass wir unsere Art der Erinnerungskultur weiter pflegen – auch heute wieder. Denn mit jeder Stolpersteinverlegung wird deutlich, wie viele Opfer das verbrecherische NS-Regime gefordert hat – auch bei uns. Und es wird deutlich, wie nah Opfer und Täter beisammen lebten. Mitten im eigenen Alltag wird man durch die Stolpersteine angeregt, inne zu halten und sich der Geschichte zu stellen. Und es wird uns bewusst, dass die Ermordung, Ausgrenzung und Verfolgung überall präsent war.

Initiator ist der Künstler Gunter Demnig, der im Jahre 2000 die ersten amtlich genehmigten Steine in Köln verlegen konnte. In Tuttlingen ist er heute zum vierten Mal. Bis jetzt hat er über 70.000 Stolpersteine in 1.265 Städten und Gemeinden gesetzt – fast alle hat Gunter Demnig dabei persönlich verlegt.

Die Auswahl der zu verlegenden Stolpersteine trifft hier in Tuttlingen eine Arbeitsgruppe. Es werden Orte ausgesucht, die räumlich nahe beieinander liegen. Außerdem wird jedes Mal versucht, verschiedene Opfergruppen zu berücksichtigen. Dieses Mal wurde die Auswahl getroffen ausgehend von den beiden Jenischen Josef und Franz Berger. Bereits vor einiger Zeit war beabsichtigt gewesen, diese zwei Personen bei einer Legung zu berücksichtigen. Inzwischen waren auch Vertreter der Jenischen aus Singen da, um sich mit dem Thema zu befassen. Außerdem besuchte eine Enkelin von Josef Berger, die heute in Australien lebt, Tuttlingen, um etwas über das Schicksal ihres Großvaters und ihres Onkels zu erfahren. Das Interesse an diesen Personen ist also groß. Deshalb ist der Galeriehof heute der erste Verlegort. Hier standen früher drei kleine Häuser. In einem lebte die Familie Berger ab 1938. Die Häuser wurden mit der Sanierung des Quartiers und dem Bau der Galerie in den 1980er Jahren abgerissen. Josef Berger und sein Sohn Franz Berger waren Korbflechter und zogen im Wohnwagen von Ort zu Ort, bevor sie in Tuttlingen ein Heim fanden. Seit Mitte der 1930er Jahre verschärften die Nationalsozialisten ihre Maßnahmen zur „Bekämpfung der Zigeunerplage“, wie es heißt. Diese richteten sich nicht nur gegen Sinti und Roma, sondern zugleich gegen „nach Zigeunerart umherziehende Landfahrer“, womit Jenische und andere „Fahrende“ gemeint waren. Josef und Franz Berger wurden verhaftet und kamen über das KZ Dachau ins KZ Mauthausen, wo sie ermordet wurden.

Nach der Verlegung hier gehen wir in die Ambrosius-Blarer-Str. Dort werden zwei Steine für das Ehepaar Sybilla und Richard Kramer verlegt werden. Sie war Jüdin, wurde verfolgt und überlebte in einem Versteck, er ging ins KZ, weil er sich nicht von ihr trennen wollte – eine Geschichte von Liebe und Treue, die gar manchen erschüttert aber auch rührt.

Im Anschluss verlegen wir heute drei Steine für kranke Menschen, die wegen ihrer Leiden in Heilanstalten oder Pflegeeinrichtungen lebten, und die grausam in Grafeneck und Brandenburg getötet wurden.

Landesweit geht eine biografische Aufarbeitung der Opferschicksale mit dem Projekt einher. Inzwischen können viele Lebensläufe auch in Internet nachgelesen werden – wie auch hier auf unserer Homepage. Über die Schicksale der Opfer, für die wir heute Stolpersteine verlegen, berichten uns Schülerinnen und Schüler des Otto-Hahn-Gymnasiums. Wir – und da spreche ich auch ausdrücklich im Sinne des Gemeinderats – finden es wichtig, dass sich junge Menschen mit den Biografien auseinandersetzten. Die Zeiten, als Eltern und Großeltern noch Zeitzeugen waren, sind vorbei. Heute erfahren Kinder und Jugendliche aus den Geschichtsbüchern, aus dem Fernsehen und anderen Medien was damals geschah. Die Ereignisse rücken immer weiter weg. Umso wichtiger ist es, dass wir daran erinnern, dass die NS-Opfer nicht nur in fernen Städten lebten, sondern dass auch hier in Tuttlingen. Die ersten 34 Biografien sind aufbereitet, aber es werden noch weitere folgen müssen – leider.
 

Ablauf:
Musik
9.00 Uhr Treffpunkt: Galeriehof
Begrüßung durch OB Michael Beck,
 
9.10 Uhr Verlegung der Stolpersteine für Josef und Franz Berger durch Gunter Demnig - Donaustraße 15 (Galeriehof)
 
ca. 9.25 Uhr
Verlegung der Stolpersteine für Sybilla und Richard Kramer,
Ambrosius-Blarer Straße 1
 
ca. 9.40 Uhr
Verlegung des Stolpersteins für Franziska Handte
Oberamteistraße 13
 
ca. 9.50 Uhr
Verlegung des Stolpersteins für Karl Eugen Menger
Oberamteistraße 22

ca. 10.15 Uhr
Verlegung des Stolpersteins für Katharina Faude
Obere Vorstadt 11
 
Die Verlegung fand unter Beteiligung von Schülerinnen und Schülern des Otto-Hahn-Gymnasiums statt.